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«Digitalunterricht ermöglicht stärker individualisiertes Lernen»

André Dinter, Chemielehrer an der Kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene und CEO des Digital Learning Hub Sek II, spricht über die Vorteile des Digitalunterrichts und die Stimmung im virtuellen Klassenzimmer in Zeiten von Corona.

27. April 2020

 

Die Zürcher Mittelschulen: Herr Dinter, am 13. März beschloss der Bundesrat, dass alle Schulen per 16. März wegen des Coronavirus geschlossen werden und auf Fernunterricht umgestellt wird. Musste das alles so schnell gehen?

André Dinter: Ich fand das super. Es war eine klare Ansage und mit Klarheit können Lehrpersonen gut umgehen. Ab dem 13. März war die Frage nach der Notwendigkeit des Digitalunterrichts auf einmal wie weggeblasen. Diese Diskussion hätte man sonst jahrelang weitergeführt. Gleich am 13. März bildeten wir vom Digital Learning Hub Sek II (DLH, siehe Box) eine Task Force und konnten am 16. März eine Website aufschalten, die Lehrpersonen beim Fernunterricht unterstützt.

 

Das Coronavirus hat die Diskussion um die Digitalisierung so richtig befeuert.

 

Sie sind also froh, dass die Schulen zur Umstellung «gezwungen» wurden?

Ich hätte mir gewünscht, dass das Müssen nicht so sehr im Vordergrund gestanden hätte. Der Übergang hätte auch mehr durch Überzeugung laufen dürfen. Aber ja: Grundsätzlich bin ich froh darüber. Das Coronavirus hat die Diskussion um die Digitalisierung so richtig befeuert.

Sie sind seit 22 Jahren Chemielehrer an der Kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene (KME). Wie läuft eine typische digitale Chemiestunde bei Ihnen ab?

Im Kanton Zürich arbeiten wir in erster Linie mit Microsoft 365, also mit Microsoft Teams für die Kommunikation und Microsoft One Note für die Datenablage. In der Regel starte ich mit einer Videokonferenz. Ich frage alle, wie es ihnen geht und lasse sie ankommen. Die meisten sind pünktlich, andere erscheinen auch im digitalen Unterricht zu spät. Das Verhalten der Schüler*innen ändert sich nicht, wenn man von der analogen in die digitale Welt wechselt. Als nächstes werfen wir zusammen einen Blick auf die Lernziele und dann starte ich oft mit einer kurzen Einführung zu einem bestimmten Thema. Alles, was länger als fünf Minuten dauert, nehme ich zuvor als Video auf. Schon zu Zeiten des Unterrichts im realen Klassenzimmer verwendete ich gerne das Modell «flipped classroom». In meinen Unterricht integriere ich zudem kurze Videos, Online-Quiz und andere aktivierende digitale Unterrichtsformen und natürlich Experimente, welche die Schüler*innen auch zuhause nachstellen können.

Wie funktioniert «flipped classroom»?

Im Grundsatz geht es darum, dass die Schüler*innen den Unterricht auf eine stark strukturierte und von mir vorgegebene Weise vor der eigentlichen Stunde vorbereiten. Im Unterricht selbst besprechen wir dann vor allem ihre Fragen.

 

Ich bin kein Fan von klassischem Frontalunterricht.

 

Worin sehen Sie die Vorteile dieser Methode?

Der «flipped classroom» ermöglicht den Schüler*innen eine individuelle Vorbereitung, für die sie sich so viel Zeit lassen können, wie sie brauchen. Ich bin kein Fan von klassischem Frontalunterricht.

Ermöglicht auch der Digitalunterricht ein stärker individualisiertes Lernen?

Allerdings. Man hört oft, dass Digitalunterricht vor allem für starke Schüler*innen geeignet sei, schwächere Schüler*innen aber noch weiter zurückfallen würden. Das mag für die Primarstufe zutreffen, wo die direkte Ansprache sehr wichtig ist. Danach ist es meiner Meinung nach aber eher der Fall, dass sich starke und schwache Schüler*innen gerade dank der individuelleren Lernmöglichkeiten aufeinander zubewegen.

Wie erleben Sie die Stimmung der Schüler*innen im digitalen Klassenraum?

Ich habe das Gefühl, dass sie es ganz gut finden. Das kann aber auch am Neuigkeitseffekt liegen. In meinem Umfeld sehe ich, dass sie gnädig mit ihren Lehrer*innen umgehen, weil sie wissen, dass die meisten noch nie auf diese Art unterrichtet haben.

Und was bereitet den Schüler*innen Probleme?

Am schwierigsten ist es für sie, dass ihre Lehrer*innen unterschiedliche Plattformen zur Datenablage benutzen. Die Bandbreite reicht von One Note über Moodle und Dropbox bis hin zu Mails. Das ist für die Schüler*innen unübersichtlich. Es gilt bei uns aber Lehr- und Methodenfreiheit, sodass man den Lehrer*innen nicht vorschreiben kann, welche Plattform sie verwenden sollen.

Wie ist die Stimmung unter den Lehrpersonen, was den Digitalunterricht angeht?

Erstaunlich positiv, ich habe nur vereinzelt negative Reaktionen gehört. Ich denke, das hängt auch damit zusammen, dass sie die Notwendigkeit der Unterrichtsform nicht hinterfragen müssen und kreativ sein können. Für viele bedeutet die Umstellung zunächst viel mehr Arbeit, das kann schwierig sein. Das ist aber zu Beginn mit jeder neuen Unterrichtsform so und ich bin überzeugt, dass man mit der Zeit auch sehen wird, dass der Unterricht mit digitalen Mitteln viel Positives mit sich bringt und auf lange Sicht auch zeitsparend sein kann.

Was klappt im Digitalunterricht nicht, was im Unterricht in Person möglich ist?

Wenn jemand im realen Schulzimmer unaufmerksam ist, kann ich sie oder ihn direkt ansprechen und «zurückholen». Diese Möglichkeit entfällt im digitalen Klassenzimmer komplett – es ist der totale Kontrollverlust. Dessen bin ich mir aber auch im realen Leben bewusst. Um dem entgegenzuwirken, versuche ich, die Schüler*innen im echten wie im digitalen Klassenzimmer mit Spielen und Quiz abzuholen und zu überprüfen, ob sie die Lerninhalte verstanden haben.

Wie wird sich der (digitale) Unterricht in Zeiten nach Corona weiterentwickeln?

Warten wohl alle Lehrer*innen darauf, dass es genau gleich weitergeht wie zuvor? Oder wollen alle auf einmal nur noch digital unterrichten? Das wären die beiden Extreme. Ich glaube und hoffe, dass es eine Mischform geben wird ­– «blended learning» also. Ich erhoffe mir sehr, dass wir künftig mehr digitale Medien im Unterricht einsetzen werden.

Digital Learning Hub Sek II

Der Digital Learning Hub Sek II (DLH) ist eine Initiative der Berufsfachschulen und der Mittelschulen im Kanton Zürich für das Lehren und Lernen im digitalen Raum. Der Hub soll alle Lehrpersonen der Sek II über die Grenzen der Berufsbildung und der Gymnasialen Bildung hinweg ansprechen, unterstützen und sie untereinander vernetzen. André Dinter ist CEO DLH und Leiter Mittelschulen, Christian Flury ist Leiter Berufsbildung. Das Pilotprojekt DLH läuft seit Oktober 2019. Der Endausbau ist im Herbstsemester 2021 geplant.

Weitere Informationen zum DLH sind diesem Flyer zu entnehmen.