Scheitern am Gymi
Die gymnasiale Maturität ist der Schulabschluss mit dem besten Ruf. Damit stehen einem alle Türen offen, das einzige Hindernis: die Gymiprüfung und die anschliessende Probezeit. Doch was passiert, wenn Schüler*innen merken, dass das Gymnasium nicht das Richtige für sie ist?
19. November 2025
Noten, Pluspunkte, Promotionen: Unsere Schule ist geprägt von einer Leistungskultur. Die meisten von uns fühlen sich in dieser Umgebung des stetigen Stresses und der schulischen Leistungen einigermassen wohl, andere können sich nicht einfügen. Ob aus eigener Entscheidung oder aufgrund der unzureichenden Promotionsleistungen verlassen pro Jahr rund dreissig Schüler*innen die KZO. In diesem Artikel interessiert uns, wie sich dieser Schritt anfühlt und welche neuen Möglichkeiten sich daraus ergeben. Dafür beleuchten wir die Geschichten dreier ehemaliger KZO-Schüler*innen.
Jaël
Aufgrund schwerer Probleme in ihrem familiären Umfeld fehlte Jaël im Frühlingssemester der dritten Klasse während beinahe drei Monaten. Wegen des Artikels 13 konnte sie trotzdem in die vierte Klasse wechseln. Für diese Unterstützung ist Jaël vor allen Dingen der Prorektorin und ihrer damaligen Klassenlehrerin sehr dankbar. Aber nach einigen Monaten wurde klar, dass sie sich aufgrund der psychischen Belastung nicht mehr auf die Schule konzentrieren konnte. Dies ging so weit, dass es für sie nicht mehr möglich war, am Morgen aufzustehen.
An diesem Punkt beschloss sie deshalb, das Gymnasium zu verlassen: «Ich habe lange gezögert, die Entscheidung zu treffen. Meine Noten zeigten, dass ich vom Niveau her ans Gymnasium gehöre. Ich hatte so hart dafür gekämpft.» Dieser Schritt war sowohl für ihre Familie als auch ihre Freund*innen traurig, und auch für Jaël war er sehr emotional: «Ich habe ein Video von mir und meiner Schwester aufgenommen, als ich den Brief mit den Resultaten der Aufnahmeprüfung aufgemacht habe. Ich habe geweint, weil ich Angst hatte, nicht bestanden zu haben und dann habe ich noch mehr geweint, weil ich bestanden hatte.»
Nachdem sie das Gymnasium verlassen hatte, war Jaël zuerst etwas planlos: Sie verbrachte ein halbes Jahr zu Hause, wo sie Teilzeit im örtlichen Bioladen arbeiten – und sich mit ihrer Trauer auseinandersetzen konnte. Nun verbringt sie gerade neun Monate in London, um ihr Englisch zu verbessern. Wie es danach weitergehen soll, weiss sie noch nicht. Wenn sie an ihre Zeit am Gymnasium zurückdenkt, erinnert sie sich an viele glückliche Momente mit ihren Freund*innen: das Christmas Carol Singing oder einfach gemeinsam Zmittag essen und es lustig haben. Dem Schulsystem an sich trauert sie nicht nach, es hätte ihrer Meinung nach die Individualität zu wenig gefördert.

Gina
Gina hat im U1 die Probezeit nicht bestanden. «Ich war traurig, weil ich wusste, dass ich bald gehen muss und ich meine guten neuen Freundinnen aus dem Gymi nicht mehr in der Schule sehen konnte.» Ihre Freund*innen und Familie haben aber glücklicherweise sehr unterstützend reagiert und sie ermutigt, nicht aufzugeben. Obwohl Gina also in dem Moment, als klar wurde, dass sie die Probezeit nicht bestehen wird, traurig war, ist sie heute froh, nicht mehr im Gymnasium zu sein: «Ich denke es gibt sehr viele Menschen, die sehr gut ins Gymi passen, doch ich glaube ich bin nicht so eine Person. Ich habe gemerkt, dass das viele Lernen doch nicht so mein Ding ist.»
Nun besucht sie nämlich die Sekundarschule in ihrer Heimatgemeinde und ist froh, dass sie mehr Zeit für ihre Hobbys, wie Reiten, Tanzen oder Schlagzeug hat. Auch freut sie sich darauf, nach dem Abschluss der dritten Sek eine Lehre beginnen zu können und somit Geld zu verdienen. Manchmal vermisst sie allerdings die motivierten Lehrpersonen im Gymnasium und die vielen interessanten Dinge, die sie an unserer Schule lernen konnte. Gina rät anderen Gymischüler*innen: Ihr könnt das Gymi schaffen, aber es gibt auch andere Wege und es ist nicht so, dass die ganze Welt zusammenfällt, wenn man es dann eben nicht schafft.

Lucien
Lucien erinnert sich an seine Zeit am Gymnasium mit gemischten Gefühlen. «Ich merkte schon früh, dass mich das viele Lernen nicht anspricht», erzählt er. Er begann noch während seiner Schulzeit, sich über andere Möglichkeiten zu informieren und Bewerbungen für eine Lehre zu schreiben. «Da ich schon früh wusste, dass ich nicht bleiben werde, war es für mich keine Enttäuschung», berichtet er nüchtern.
Sein Umfeld reagierte geteilt auf die Entscheidung. Während einige Freunde bedauerten, dass er die Schule verlassen musste, unterstützte ihn seine Familie in seinem Vorhaben – wenn auch mit einer leisen Hoffnung, er möge zumindest bis zum Sommer bleiben. Heute denkt Lucien positiv an seine Zeit zurück: «Mit meinen Kollegen und der Klasse habe ich viel erlebt», erzählt er. Einmal kehrte er sogar an einem freien Tag zurück, um das Gymnasium zu besuchen.
Auf die Frage, was er vom Schulsystem des Gymnasiums hält, bleibt Lucien eher zurückhaltend. «Von dem Schulsystem halte ich allgemein nicht mehr so viel und möchte nicht genauer darauf eingehen», sagt er und macht deutlich, dass er sich seiner Entscheidung sicher war. Im Rückblick steht für ihn fest: «Es war richtig.» Lucien hat den für ihn passenden Weg eingeschlagen.

Nicht das Ende, sondern ein Neuanfang
Wie sichtbar wurde, mag das Scheitern am Gymi ein herber Schlag sein, doch ein Austritt bedeutet nicht das Ende, sondern einen Neuanfang. Dies nicht zuletzt dank dem Schweizer Bildungswesen, bei dem einem viele Wege zum beruflichen Erfolg offenstehen. Studieren können wir auch mit einer Berufslehre und der Berufsmaturität. Und sowieso: Die Karriere einer Person ist mit der Grundausbildung nicht abgeschlossen, und viel wichtiger: die persönliche Entwicklung ebenso nicht.
Dieser Beitrag ist eine Zweitveröffentlichung. Der Text erschien zuerst in der KZO-Zeitung «KUSS». Die Bilder zeigen die KZO, jedoch nicht die porträtierten Personen.