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Grab

Ein ehemaliger Soldat gräbt ein Grab. Wieso er das tut, weiss er nicht. Und wohin es führt erst recht nicht. Eine Kurzgeschichte von Veronika Reinl.

5. Oktober 2022

Will streckt sich. Es ist noch sehr früh am Morgen, und die Luft ist angenehm kühl. Sein Blick schweift über seinen Rasen. Resigniert greift er zur Schaufel und nimmt auf dem Weg auch einen Eimer mit. Und dann stapft er langsam in seinen Garten.

Der erste Stoss ist hart. Die Erde ist noch leicht gefroren, Tau ziert die vielen Grashalme. Wills Atem steigt in Wolken zum Himmel und verdunstet dann langsam. Der zweite ist schon einfacher, und die Schaufel versinkt im Boden. Er hebt die Grube aus. Mehr und mehr. Und das seit Tagen. Er weiss nicht wieso, aber irgendetwas drängt ihn dazu. Ein starker Wille, eine Obsession hat ihn ergriffen, dieses Loch zu graben. Und als er beginnt, fällt ihm schnell auf, dass die Erde erstaunlich locker ist. Lockerer als der Rest seines Rasens. Schlag für Schlag, Schaufel um Schaufel wird das Loch tiefer. Die Sonne geht schon auf, und der Schweiss läuft Will den Rücken hinunter.

Erschöpft legt er eine Pause ein und stützt sich auf den Griff des Gerätes. Den Sonnenaufgang betrachtend, ruht er sich aus. Sein Blick fällt auf seine rechte Hand. Aus früherer Kriegszeit fehlen ihm dort nämlich zwei Finger. Der Ringfinger und der kleine Finger. Wäre Mary jetzt hier, würde sie sagen: «Sogar der Krieg ist gegen unsere Ehe». Und dann würde sie lachen.

Es vergeht eine geraume Zeit, bis Will wieder anfängt. Diesmal etwas langsamer. Die Grube ist schon so tief, dass beim Einstürzen der Wände seine ganze Arbeit dahin wäre. Die Erde, die er aushebt, ist deutlich kälter. Er spürt das. Und sie ist nasser. Kurz bevor er erneut eine Pause beginnen will, stösst er auf Widerstand. Holz. Jetzt, deutlich ambitionierter als zuvor, gräbt er weiter. Es ist eine Kiste. Nein, ein Sarg. Exakte achtunddreissig Minuten braucht er, um ihn komplett zu befreien. So aufgeregt ist er. Mit einer Stange bricht er ihn auf – und erstarrt. Ein Skelett. Von einem Mann. An der rechten Hand fehlen zwei Finger. Und der Schädel hat ein grosses Loch. Als wäre er eingeschlagen worden. Will kann nicht mehr atmen. Es schnürt ihm den Hals zu. Er stolpert von der Kiste weg, rückwärts und hastig. Verstört. Hätte er sich umgedreht, hätte er den Dachziegel gesehen, der hinunterrutscht. Und fällt.