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Zwischen den Welten

Das Schauspielhaus Zürich ist zurück und rockt die Bühne mit voller Wucht. Das Spiel mit dem Hier und Jetzt hat endlich wieder begonnen, die Gratwanderung zwischen dem Sein und dem Schein, die Inszenierung des täglichen Wahnsinns. Was dies alles mit den Zürcher Mittelschulen zu tun hat? Mehr, als man meinen möchte.

22. Oktober 2021

Pauline Avognon hat die Matur in der Tasche und die Zukunft vor sich. Ein Jahr ist es nun her, seit sie ihren Spind an der Kanti Stadelhofen räumte und hinaustrat in eine Welt, die jetzt ihr gehört.

Bald schon stand die Frage im Raum: Was nun? Das Jus-Studium war ein erster Gedanke, der sich umgehend wieder in Luft auflöste. Oder vielleicht doch lieber – ja was denn eigentlich? Genau: Theater. Und Pauline machte sich auf den Weg.

Was für ein Theater!

Der Besuch eines Theaters ist für viele Jugendliche ein prägendes kulturelles Erlebnis. Ganz gleich, welches Stück gezeigt und wie es auch immer inszeniert wird: Es gehen Türen auf, die das Publikum in Welten entführt, die Welten von der Welt entfernt sind, in der uns der Alltag in seinem gleichförmigen Einerlei gefangen hält. Theater ist Ausbruch, Aufschrei, Spannung und Kontroverse in einem. Theater besetzt Themen, rüttelt auf und konfrontiert uns mit Wahrheiten, die uns allen den Spiegel vorhalten.

Das Schauspielhaus Zürich versucht im Rahmen von «Theater & Schule» mit verschiedenen Angeboten, Jugendliche für das Abenteuer Theater zu faszinieren und ihnen zu zeigen, wie real Schauspiel sein kann. Denn was sich Abend für Abend auf der Bühne abspielt, ist nichts anderes als ein Abbild all dessen, was wir träumen, fürchten, verdrängen und lieben. Und da sitzen wir nun auf unseren Stühlen im Parkett und werden Zeugen von Intrigen, Liebeleien, Gefühlsausbrüchen, Gewaltorgien, Schockstarren, Exzessen und Publikumsbeschimpfungen. Zum Beispiel so:

ihr könnt uns mal, ihr durchschnittsärsche, heileweltfanatiker von oben bis unten. wie ihr uns angiert mit euren schweineaugen, hechelnd und geifernd und immer so verdammt selbstverliebt. bleibt doch sitzen in eurer reihenhausromantik, klammert euch fest an der leere, die euch umgibt. das leben, ihr loser, findet statt. morgen abend ab 20 uhr, auf der bühne eurer albträume. so, und jetzt stellt eure verkalkten gehirne auf empfang. alles andere wäre verschwendung.

Grenzen und Erfahrungen

Ist das noch normal? Nein. Aber das muss es auch nicht. Theater hatte schon immer das Privileg, sich frei zu äussern, Grenzen zu überschreiten und das vermeintlich Normale hinter sich zu lassen. Die Bühne wird zum Ort, wo alles gedacht, gesagt, verschwiegen werden darf. Und im besten Fall lässt sich das Publikum mitreissen, begeistern, berühren.

Und die Schule, ist sie normal? Ja, natürlich. So normal, wie eine Institution eben sein kann, die aus lauter kleinen Bühnen besteht. In jedem Klassenzimmer wird im Stundentakt ein neues Stück aufgeführt, und die Lehrperson führt Regie. Sie legt die Dramaturgie fest und entscheidet, wie der Stoff interpretiert wird. Wenn es ihr gelingt, Wissen unterhaltsam, spielerisch, klar und verständlich zu vermitteln, ist auch dies grosses Theater.

Schule und Theater haben mehr miteinander gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Denn die Liebe zum Schauspiel ist an Schulen genauso verbreitet wie der Hang zur Pädagogik am Theater. Beide Institutionen vermitteln Wissen und Erkenntnis, die eine didaktisch konsequent, die andere dramatisch zugespitzt. Damit Jugendliche das Beste aus beiden Welten kennenlernen können, fördert das Schauspielhaus Zürich den Austausch zwischen Schulen und Theater seit Jahren.

Theater & Schule

«Theaterpädagogik verstehen wir in erster Linie als Vermittlungskunst. Sie initiiert künstlerische Prozesse, schafft Begegnungen und Austausch mit Menschen und ermöglicht Erfahrungen mit Theater.» Antonia Andreae ist erste Ansprechperson für Lehrpersonen und Schüler*innen. Gemeinsam mit der Theaterpädagogin Manuela Runge ist sie verantwortlich für das vielseitige Angebot, das wie gemacht scheint für die Zürcher Mittelschulen. «Fast jeder Jugendliche im Kanton Zürich sass bei uns schon einmal im Publikum und hat eine Aufführung auf der Pfauenbühne oder im Schiffbau miterlebt», sagt sie. «Viele Schulklassen, die zu uns kommen, nutzen auch unser theaterpädagogisches Angebot zu ausgewählten Inszenierungen. So erhalten die Schüler*innen einen vertieften Einblick in den Stoff und können das Stück viel besser verstehen und einordnen.»

Theaterbegeisterten Lehrpersonen rollt das Schauspielhaus im wahrsten Sinne des Wortes den roten Teppich aus. Auf dem Programm von Theater & Schule stehen Begegnungen mit Theatermacher*innen, exklusive Probenbesuche oder Fortbildungen zum darstellenden Spiel. Und für Jugendliche, die Theater nicht nur konsumieren, sondern selber daran teilhaben möchten, gibt es den «Blick hinter die Kulissen». Hier erfahren interessierte Schüler*innen viele kleine Geheimnisse aus der Bühnenwelt und bekommen einen realistischen Einblick in die Arbeit, die hinter jeder Produktion steht. Und dann gibt es auch noch das Theaterjahr – und hier kommt Pauline Avognon wieder ins Spiel.

Im Wendekreis des Theaters

Jedes Jahr erhalten fünf junge Menschen die Möglichkeit, während einer ganzen Spielzeit Teil des Schauspielhauses zu sein. Für zwölf Monate gehören sie zum Team der Theaterpädagogik und erhalten Einblick in die Regie, Dramaturgie, Projektplanung und Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus können sie in alle weiteren Abteilungen hineinschnuppern. Sie konzipieren und begleiten Workshops mit Schulklassen und assistieren bei einem der vier Jugendclubs, die allen Spielbegeisterten zwischen 13 und 23 Jahren offenstehen.

Pauline Avognon gehört in der aktuellen Spielzeit zu den fünf Glücklichen. «Was ich zurzeit erlebe, ist wie ein Traum», sagt sie. «Ich wurde mit offenen Armen aufgenommen und darf eine Welt kennenlernen, die mich total fasziniert. Das Schauspielhaus ist wie eine grosse Familie, in der alle ihren Platz haben.» Obwohl das Theaterjahr erst begonnen hat, ist Pauline gefühlsmässig längst angekommen. «Ich spürte von Anfang an eine unglaubliche Wertschätzung, obwohl ich sehr wenig vom Theater weiss und bisher erst ein paar Erfahrungen auf Schulbühnen und letztes Jahr in einem Jugendclub gesammelt habe. So habe ich nur gestaunt, als ich schon nach wenigen Tagen einer Probe beiwohnen konnte und mich der Regisseur fragte, was ich davon halte. Ich so: ‹Was soll ich sagen, ich habe ja gar keine Ahnung.› Und er: ‹Doch, du bist ein Mensch mit einer eigenen Meinung. Und genau die interessiert mich.›»

Was gab eigentlich den Ausschlag, dass Pauline das Theaterjahr absolvieren darf? Eine Prüfung? «Überhaupt nicht», sagt sie, «wir mussten vielmehr ein Video einschicken und ein paar Fragen beantworten. Es ging wohl hauptsächlich darum, dass sie uns spürten und eine Ahnung davon bekamen, wer und wie wir sind. Danach gab es zwei Auswahl-Workshops, in denen es darum ging, wie wir in der Gruppe funktionieren und wo unsere Interessen liegen.»

Bis jetzt hat Pauline eine Hospitanz in der Dramaturgie gemacht und hautnah miterlebt, wie ein Stück entsteht. Ihr eigentliches Interesse aber liegt im Schauspiel selbst. «Das Acting gehört zwar nicht direkt zu unserer Ausbildung», sagt Pauline, «aber ich lerne schon sehr viel, wenn ich bei den Proben dabei bin und sehe, wie die Schauspieler*innen performen, wie jede*r einzelne die eigene Persönlichkeit einsetzt und einen eigenen Stil entwickelt. Grosse Unterstützung erhalte ich auch von unserer Hausregisseurin Suna Gürler, mit der ich viel Zeit verbringe und auch einen Jugendclub leite. Wer weiss, wohin diese Reise noch führen wird.»

Die Mittelschule als Türöffner

Auf den Geschmack gekommen ist Pauline im Gymnasium. «Meine ersten Erfahrungen mit dem Theater verdanke ich meiner Deutschlehrerin an der Kanti Stadelhofen. Sie hat unsere Klasse immer wieder ins Schauspielhaus mitgenommen und uns gezeigt, wie spannend und vielseitig Theater sein kann. Die Aufführungen waren für mich immer ein besonderes Highlight. Ich habe wohl schon damals gespürt, dass das Theater mich ein Leben lang begleiten wird.»

Der Besuch der alten Dame, Orpheus, Frühlings Erwachen, König der Frösche, Greta und noch so viel mehr: Die Saison 2021/2022 ist randvoll mit Stoff, der auf die Bühne drängt. Pauline wird noch viel lernen und alles in sich aufsaugen, was das Theater hergibt. Schon jetzt weiss sie aber, dass fast nichts so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht: «Die Inszenierung macht den Unterschied. Aus Banalem kann ein Skandalstück entstehen, aus einem alten Stoff etwas Hochaktuelles. Ich kann nur staunen, was alles möglich ist.» Auf der Bühne genauso wie im Leben.

Kurz und bündig

Für Lehrpersonen und Schüler*innen der Zürcher Mittelschulen hält das Schauspielhaus ein vielfältiges theaterpädagogisches Angebot bereit. Dazu gehören neben Theaterbesuchen von Schulklassen auch theaterpädagogische Workshops im Schulzimmer oder direkt vor Ort. Das detaillierte Programm ist online oder in der aktuellen Schulpublikation «Theater & Schule» zu finden. Weitere Informationen erteilen:
 
Antonia Andreae (Schulbeauftragte)
antonia.andreae@schauspielhaus.ch
+41 44 258 75 18

Manuela Runge (Co-Leiterin Theaterpädagogik, Leiterin Theater & Schule)
manuela.runge@schauspielhaus.ch
+41 44 258 75 62