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Die Kanti Wiedikon geht fremd

Die Drei ist keine Zahl, sondern viel mehr als das. Sie steht für ein Quartier, das alles bietet, was Zürich ausmacht: das urbane Leben, das kleine Glück, das tägliche Miteinander. Die Kanti Wiedikon war immer Teil vom «Drüü», hat Generationen gebildet und geprägt. Jetzt zieht sie weiter – in den Kreis 4.

2. November 2022

Die Kantonsschule Wiedikon ist zweifellos eine Institution. 1965 als Töchterschule der Stadt Zürich gegründet, war sie ursprünglich eine Abteilung des Mädchengymnasiums der Hohen Promenade, die schon damals aus allen Nähten platzte. Erst Mitte der siebziger Jahre öffnete sie sich der Koedukation, und die Buben hielten Einzug. Das «Büel», wie es noch heute heisst, wurde zum Mittelpunkt, ja zur Heimat für Schülerinnen und Schüler, die links von See und Limmat wohnten und zu einer eingeschworenen Gemeinschaft wurden. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Ein gallisches Dorf

Wer das Büel verstehen will, muss Zürich verstehen. Das Zürich links der Sihl und Limmat, das waren die kleinen Leute, die Arbeiter, die wenig besassen, aber viel Herz hatten. Der Regisseur Kurt Früh hat ihnen mit dem Film «Hinter den sieben Gleisen» ein Denkmal gesetzt und ein Bild von Aussersihl gezeichnet, das von der Solidarität und dem Mitgefühl der Menschen erzählt. Wer hier lebte, ass hartes Brot. Es bedeutete Fliessband, Akkord und Schweiss – und war so etwas wie die raue Gegenwelt zu den blank polierten Fassaden der gut betuchten Bahnhofstrasse.
 
Dieser Geist ist auch heute noch spürbar. Das Brot ist im Lauf der Jahre weicher geworden, doch das Gefühl, Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft zu sein, ist an der Kanti Wiedikon noch immer allgegenwärtig. Ein gallisches Dorf, sagen die einen, das «Dorf der Unbeugsamen» die anderen. Und alle sind stolz und glücklich, Teil dieser Geschichte zu sein, die so stark im Quartier verwurzelt ist wie das knackige Wiedikerli, das den Würstchen aus der österreichischen Hauptstadt längst den Rang abgelaufen hat.

Eine Vision nimmt Form an

Und jetzt das: Die Kanti Wiedikon geht fremd! Die Idee geisterte schon lange in den Köpfen der Schulleitung herum, doch erst im vergangenen Herbst nahm sie konkrete Formen an. «Martin wollte die Bildung dorthin bringen, wo die Menschen sind», sagt Michel Bourquin, der nach dem tragischen Tod des bisherigen Rektors Martin Andermatt dessen Amt ad interim übernommen hat. «Das war allerdings leichter gesagt als getan. Denn Aussersihl ist nicht unbedingt dafür bekannt, dass es besonders bildungsnah wäre – schon gar nicht der Chreis Cheib, der viel eher für Blut, Schweiss und Tränen steht als für Kopf, Herz und Hand.»

Wir wollen die Bildung dorthin bringen, wo die Menschen sind. Martin Andermatt

Der langen Rede kurzer Sinn: Das Projekt einer Kantonsschule im Kreis 4 stiess bei der Bildungsdirektion auf offene Ohren. Denn man muss wissen: Die demografische Entwicklung zeigt steil nach oben, die Schüler*innenzahlen werden in den kommenden Jahren explodieren, und es besteht dringender Handlungsbedarf, um diesen stetigen Anstieg in den Griff zu bekommen. Da die Gründung von neuen Kantonsschulen einen jahrelangen Gang durch die Institutionen mit sich bringt, liegt die pragmatische Lösung darin, bestehende Schulen zu vergrössern und sie mit Filialen an anderen Standorten auszustatten – im Falle der Kanti Wiedikon mit einer Filiale im «Vieri».

Der glückliche Zufall wollte es, dass auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofs entlang der Hohlstrasse das neue Polizei- und Justizzentrum erbaut und per Ende Oktober 2022 bezogen wurde. Dabei blieb eine grosse Parzelle frei – ein «Filetstück», wie Bildungsdirektorin Silvia Steiner es nannte. Bald war klar, dass die neue Filiale hier zu stehen kommen sollte, und schon nach kurzer Zeit standen die Ampeln auf grün. «Wir haben uns umgehend an die Arbeit gemacht», sagt Michel Bourquin. «Begonnen hat alles mit einem Workshop, in dem wir eine erste Standortbestimmung vornahmen und uns Gedanken über Organisation, Strukturen und Werte machten.»

Der Campus Wiedikon entsteht

Das Projektteam stand bald fest: Während Michel Bourquin die Verantwortung für alle strategischen Fragen übernahm, wurde Nicole Brockhaus-Soldenhoff mit der operativen Projektleitung betraut. Als ehemalige Schulleiterin an der Kantonsschule Enge und Organisatorin mehrerer Grossanlässe war und ist sie so etwas wie die Idealbesetzung für diese Aufgabe. «Wir sind ein Team von vier Personen und arbeiten eng mit unserem Thinktank zusammen, der aus sechs Lehrpersonen der KWI besteht», sagt sie, «eine Art Sounding Board, das unsere Arbeit kritisch hinterfragt und uns wertvolles Feedback gibt.»

Die zentrale Frage lautete: Wie erweckt man eine Filiale zum Leben? Alle Lehrpersonen und Schüler*innen konnten sich an diesem Prozess beteiligen und ihre Visionen und Wünsche einbringen. «Da wir diesen Arbeitsschritt möglichst offen und transparent gestalten wollten, fassten wir alle Voten zusammen und präsentierten insgesamt sechzehn mögliche Szenarien in einer Ausstellung», erklärt die Projektleiterin. «Der Thinktank spielte dabei eine wichtige Rolle, weil er sich aktiv am Findungsprozess beteiligte und mithalf, den gesamten Input in drei Szenarien zusammenzufassen.»

«Uns ging es nie darum, eine neue Schule zu gründen», sagt Michel Bourquin. «Wir wollten vielmehr unseren Schulspirit mitnehmen und den Standort an der Hohlstrasse in unserem Sinn und Geist gestalten – als Campus Wiedikon mit eigenem Flair und eigener Anziehungskraft.» So machte sich die Schulleitung daran, die Szenarien ihren Wünschen entsprechend zu formen, und einigte sich schliesslich auf eine Lösung, mit der alle leben konnten. «Die Fachmittelschule (FMS) sowie das gymnasiale Profil Philosophie, Psychologie, Pädagogik (PPP), die wir beide neu anbieten, werden fix an der Hohlstrasse starten», so der Rektor. «Hinzu kommen neun Nomadenklassen, die jeweils einen Tag pro Woche am neuen Standort verbringen.»

Gut getakteter Fahrplan

Am 19. August 2024 öffnet der Standort Hohlstrasse seine Tore. Der Start erfolgt mit fünfzehn Klassen, weitere zehn kommen bis 2027 hinzu. Dann werden bis zu 650 Schüler*innen an der Hohlstrasse ein und aus gehen, was das Volumen der Kantonsschule Wiedikon von 1050 auf 1700 Schüler*innen erhöht. Dies wiederum stellt die Kanti vor eine weitere grosse Herausforderung: Wo sollen all die neuen Lehrkräfte herkommen?
 
«Die Filiale Hohlstrasse ist Teil des Campus Wiedikon und damit Teil unserer Schule», sagt Nicole Brockhaus-Soldenhoff. «Lehrpersonen, Schulleitung, Verwaltung und Hausdienst arbeiten grundsätzlich an beiden Standorten und tun alles, damit sich die Schüler*innen an beiden Orten als Teil unserer Kanti verstehen. Die Suche nach Lehrpersonen, die mitziehen und unsere Werte teilen, ist und bleibt aber eine echte Knacknuss.»
 
Ab Januar 2023 werden die Module des Provisoriums vorfabriziert und ab 2024 aufgebaut. Im Sommer 2024 nimmt die Filiale ihren Betrieb auf. «Wir gehen davon aus, dass die Hohlstrasse bis 2028 Teil von Wiedikon sein wird», sagt Michel Bourquin, «bevor sie dann vermutlich zu einer eigenständigen Schule wird – der Kanti Kreis 4.» Ab 2028 ist auf dem Areal Hohlstrasse ein zusätzlicher Neubau für weitere 1000 Schüler*innen geplant – die Skala der Möglichkeiten ist nach oben offen.

Tradition meets Innovation

Die alte Tante Wiedikon hier, der neuen Stern am Bildungshimmel dort. Da prallen Welten aufeinander, die sich abstossen oder – eben – anziehen. Im Falle von Wiedikon, könnte man sagen, ist die Anziehung magnetisch. Die Art und Weise, wie aus einer Vision ein konkretes Projekt entstand, das gross und immer grösser wurde, wie sich ein Team formte, das strukturiert an seine Aufgabe herangeht und die Dinge nach einem klaren Zeitplan vorantreibt, und wie der Funke schliesslich auf die gesamte Schule überspringt – all das ist typisch Wiedikon. Daran glauben, dass etwas möglich ist, auf die eigenen Stärken vertrauen, und dann zur Tat schreiten: So geht das.
 
Die Metamorphose der Schule und der Schritt über die eigenen Grenzen hinaus sagen viel aus über den Mut zur Veränderung und den Willen zur Gestaltung. Nicht jede Schule würde sich dies zutrauen, geschweige denn wollen. In Wiedikon fiel alles zusammen: der Aufbruch, der Tod, die Planung und die Durchführung. Niemand zweifelt daran, dass im August 2024 der Startschuss fällt. Mit einem starken Team – und einem neuen Rektor. Michel Bourquin freut sich auf eine Herausforderung der besonderen Art: Er wird wieder Lehrer.