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Jäger der verborgenen Schätze

Wo das Einerlei des Alltags an seine Grenzen stösst, beginnt die Schönheit der Mathematik. Losgelöst aus Raum und Zeit, führt sie dem Wissenden eine Welt vor Augen, die Welten von den Welten entfernt liegt, in denen der Durchschnitt gerade gut genug ist. Joël Huber hat diese Welt zu seiner gemacht. Hier setzt er seine Zeichen.

11. Dezember 2020

So viele schöne Strukturen! So viel formale Eleganz! So viele logische Muster! Und erst die Primzahlen, die ihren eigenen Gesetzen folgen! Je tiefer der Mensch in ihre Geheimnisse vordringt, desto näher kommt er ihrer Wahrheit.

Die Magie der Mathematik hat Joël Huber längst verzaubert. Jede Aufgabe ist ein Aufbruch in ein unbekanntes Land, jedes Rätsel eine Schatzsuche, die ihm alles abfordert. Er macht Beobachtungen, sammelt Hinweise, zieht Schlüsse und bewegt sich Schritt für Schritt auf sein Ziel zu. Vorausgesetzt, er knackt den Code der Aufgabe und erkennt, wonach er überhaupt suchen soll. Denn eines ist klar: Auf der falschen Insel liegt kein Schatz verborgen.

Der Funke der Begeisterung zündet

Logisches Denken ist schon in der Primarschule eine Stärke von Joël. Ganz gleich, welche Aufgaben ihm der Lehrer vorlegt: Er hat die Lösung, bevor seine Klassenkameraden überhaupt verstehen, worum es geht. Nach und nach findet er Freude an mathematischen Rätseln und anderen Problemen, die immer komplexer und anspruchsvoller werden. «Der spielerische Umgang mit der Mathematik hat mich schon immer fasziniert», erinnert sich Joël, «aber an die Möglichkeit, mich im Wettbewerb mit Gleichgesinnten zu messen, hatte ich bis dahin nie gedacht.»

Nach der Primarschule geht Joël an der Kantonsschule Freudenberg auf Entdeckungsreise. Auch hier fällt sein Talent früh auf, denn in Sachen Mathematik und Informatik kann ihm niemand das Wasser reichen. Und dann, eines schönen Tages, erreicht ihn eine Mail seines ehemaligen Primarlehrers, der ihn auf die Mathematik-Olympiade aufmerksam macht und zur Teilnahme ermuntert. Damit beginnt für Joël eine neue Zeitrechnung.

«Citius, altius, fortius»

Schneller, höher, stärker: Das heutige Motto der Olympischen Spiele hat nicht mehr viel mit dem ursprünglichen olympischen Gedanken zu tun, wonach es nicht wichtig ist zu siegen, sondern vielmehr teilzunehmen und sein Bestes zu geben. Joël Huber verbindet das eine gekonnt mit dem anderen. Mit seinen achtzehn Jahren blickt er bereits auf zahlreiche Teilnahmen an Schweizer und Internationalen Olympiaden zurück, und seine Medaillensammlung wächst und wächst. Eben erst hat er im weltweiten Wettbewerb für Informatik nach Bronze im Vorjahr nun Silber geholt. Im kommenden Jahr will Joël seinen Medaillensatz vervollständigen und mit Gold im Gepäck nach Hause zurückkehren.

Klingt einfach, ist aber grosses Kino. Seit rund dreissig Jahren nimmt die Schweiz jeweils mit einer Dreierdelegation an den International Olympiads in Informatik (IOI) teil, und erst einmal gab es Gold und nur wenige Male Silber. Denn auch die Konkurrenz schläft nicht. Die Asiaten, die Russen, die Amerikaner: Auch sie sind ziemlich gut darin, Spuren zu suchen und Schätze zu heben.

Joël Huber, ganz privat

Joël ist das beste Beispiel dafür, dass ein heller Kopf kein schräger Vogel und schon gar kein Nerd sein muss. Natürlich weiss er, was er kann, und klar ist er stolz auf seine Erfolge. Aber sonst? Alles ganz normal. Ein freundlicher Mensch ohne Berührungsängste, der mit offenen Augen durchs Leben geht und sich für Gott und die Welt interessiert. Er treibt Sport, spielt gerne Badminton, joggt durch die Wälder und hält sich aktiv fit.

Die gute körperliche Verfassung kommt Joël auch an den verschiedenen Olympiaden zugute. «Ein Wettkampf dauert zwei bis vier Tage, an denen wir jeweils während fünf Stunden Aufgaben lösen», sagt er, «da ist eine gute Kondition unerlässlich. Aber auch so bin ich am Ende des Tages komplett geschafft und ausgelaugt. Die Müdigkeit kriecht regelrecht in mich hinein – viel mehr als nach jedem Dauerlauf.»

Ein weitere Leidenschaft ist die Musik. Joël spielt fürs Leben gern klassische Gitarre, ist Teil des Saxophon-Ensembles am Freudenberg und singt mit im Jugendchor Thalwil, wo er auch wohnt. Bereits jetzt freut er sich auf das Zwischenjahr, das er nach der Matur einlegen will. «Mein grösster Wunsch wäre, an einer Hochschule vorzusingen und Mitglied eines ambitionierten Chors zu werden.» Und weil Mathematik und Musik sehr viel gemeinsam haben, interessiert sich Joël auch für Kompositionstechnik. «Die Musik ist für mich eine Herzensangelegenheit», sinniert er, «faszinierend ist für mich aber auch, dass jedes Musikstück die DNA seines Komponisten in sich trägt.»

Erfahrungen für ein ganzes Leben

Mit seinem Wissen und Können hat es Joël schon jetzt weit gebracht. Er hat in der Schweiz alles gewonnen, was ein Jugendlicher in den Disziplinen Geometrie, Kombinatorik, Zahlentheorie und Algebra gewinnen kann, und seither steht ihm die Welt offen. In den letzten zwei Jahren hat er Wettkämpfe in der Slowakei, in Aserbeidschan und Tschechien bestritten und an Trainingslagern in Belgien und Tschechien teilgenommen. «Corona hat mir dieses Jahr einen grossen Strich durch die Rechnung gemacht», bedauert er, «die Reisen nach Rumänien, Belgien, St. Petersburg und Singapur fielen leider ins Wasser.»

Ob die Wettkämpfe auch im kommenden Jahr online stattfinden werden, steht in den Sternen. Für Joël wird es so der so das letzte sein. «Teilnahmeberechtigt an den Wettkämpfen sind Jugendliche unter zwanzig, die ein Gymnasium oder eine vergleichbare Institution besuchen. Da ich im Sommer meine Matur mache, bin ich dann leider draussen.»

Vom Bit zum Qubit

Die nächste Herausforderung, der sich Joël zurzeit gerade stellt, ist die Maturitätsarbeit. Sein Thema hat er mit Bedacht gewählt: Es geht um Quantencomputer, die in Zukunft Probleme lösen sollen, an denen bisher jeder Supercomputer gescheitert ist. «Der Quantencomputer stösst eine Tür in eine völlig neue Dimension auf», sagt Joël. «Er steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber seine Leistungsfähigkeit ist überragend. Im Vergleich zu einem PC ist der Unterschied etwa so gross wie der von einem Überschall-Jet zu einem Zeppelin.»

Warum das so ist? Weil Quantencomputer nicht mehr mit Bits rechnen, welche die beiden Zustände 0 und 1 abbilden, sondern mit Quanten-Bits oder kurz Qubits. Und jetzt kommt’s: Auch ein Qubit kann im Zustand 0 oder 1 sein, theoretisch aber auch in unendlich vielen Zuständen dazwischen. Verstanden? Wenn nicht, schafft eine Münze Klarheit: Ein Bit bildet Kopf und Zahl mit 0 und 1 ab, während ein Qubit mit einer in die Luft geworfenen Münze vergleichbar ist, die sich rasend schnell um sich selber dreht. Da Kopf oder Zahl in der Rotation nicht mehr erkennbar sind, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Qubits sind in beiden Zuständen gleichzeitig.

Was dies in der Masse bedeutet, lässt nicht nur Joëls Herz höher schlagen. «Klassische Computer sind im binären System gefangen und stellen Zahlen mit den Zuständen 0 und 1 dar. Zahl 1 entspricht [0,1], Zahl 2 [1,0], Zahl 3 [1,1] und so weiter. Ein Quantencomputer hingegen kann einem Qubit theoretisch unendlich viele Zustände zuordnen, und das gleichzeitig. Dies hat zur Folge, dass seine Kapazität ins Unermessliche steigt und die Rechenleistung förmlich explodiert.»

Wie weiter?

Die ersten Schritte in die Zukunft stehen für Joël fest: Schule abschliessen und an der IOI 2021 Gold gewinnen. Wohin es ihn nach dem Zwischenjahr verschlägt, weiss er noch nicht. «Ein Studium an der ETH ist eine Option», sagt Joël, «aber mit meinen vielen Kontakten und Freundschaften, die ich in der ganzen Welt geknüpft habe, kann ich mir auch gut vorstellen, dass ich irgendwo im Ausland Wurzeln schlage.»

Die wahre Heimat für Joël ist ohnehin die Mathematik. Er nimmt sie mit, wohin er auch geht. Die Prognose, dass er auch in den kommenden Jahren für Schlagzeilen sorgen wird, fällt nicht schwer für einen, der in Überschallgeschwindigkeit unterwegs ist. Und während Joël Huber zu seinem nächsten Quantensprung ansetzt, besteigt der Autor sein Luftschiff und schwebt leise davon.