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Legt die Geräte weg!

Tablets im Klassenzimmer überfordern alle Beteiligten. Es gibt klügere Wege, um digitale Fertigkeiten zu unterrichten, findet Andreas Fannin.

8. Oktober 2025

Kürzlich gab ich einer Schulklasse den Auftrag, in Gruppen als Vorbereitung auf die anstehende Prüfung die Bedeutung und die Folgen der Kreuzzüge zu repetieren. Eine Gruppe fragte mich, ob sie den Auftrag ausserhalb des Schulzimmers ausführen könne. Ich sagte zu. Als ich die Gruppe zehn Minuten später aufsuchte, spielten die Schüler zusammen ein Fussballspiel auf ihren Smartphones. In meiner Rolle sah ich mich gezwungen, mit ihnen zu schimpfen. Schon bald beschlich mich ein Gedanke: Es ist nicht fair, sie alleine für ihr Fehlverhalten verantwortlich zu machen. Im Moment wird von Jugendlichen in der Schule zu viel verlangt: Sie müssen sich selbst disziplinieren, sich konzentrieren, obwohl die Verlockungen des Internets nur einen Klick entfernt sind und das Smartphone stets verfügbar in der Hosentasche liegt. 

Die UNESCO rief 2023 zu smartphonefreien Schulen auf. Schon die blosse Anwesenheit eines Smartphones beeinträchtigt nachweislich die Konzentrationsfähigkeit. Aber nicht nur bei den Smartphones besteht Handlungsbedarf. Auch in den Schulzimmern sind problematische Entwicklungen zu erkennen: Gamen, shoppen, chatten, Arbeitsaufträge lösen, E-Mails beantworten, Nachrichten schreiben oder die Frage der Lehrkraft kurz bei ChatGPT eintippen: Wenn Jugendliche während der Schulstunde an ihren persönlichen Rechnern sitzen, passiert vieles gleichzeitig. In den Pausen hat man zudem Zeit, rechtens zu gamen oder Tiktok-Videos zu schauen. Erwachsene kennen dasselbe Phänomen: Während einer Sitzung noch schnell die Mails checken, Schlagzeilen lesen oder nach der Traumwohnung suchen. Während längerer Zeit konzentriert am Computer zu arbeiten oder einfach im Zug aus dem Fenster zu schauen, fällt vielen schwer.

Bei Jugendlichen hat das allerdings schwerwiegende Folgen: Digitale Reize aktivieren fortlaufend das dopamingesteuerte Belohnungssystem – sie vermitteln schnelle Befriedigung, ohne Anstrengung. So wird das Gehirn auf kurzfristige Stimulation trainiert, während die Fähigkeit zu Ausdauer, Reflexion und Selbststeuerung verkümmert. Diese Prozesse ähneln in ihrer Dynamik der Wirkung bekannter Suchtmittel. Paradoxerweise schützen wir Jugendliche gesetzlich vor Alkohol oder Nikotin – nicht aber vor den Folgen unkontrollierter Bildschirmzeit. Räume der Ruhe, in denen die Jugendlichen lernen, konzentriert einen Sachverhalt zu durchdenken, werden rarer. Die Verwendung von KI führt dazu, dass eine äusserst elaborierte Antwort auf jede erdenkliche Frage ohne jegliche Denkleistung unmittelbar zur Verfügung steht. Das ist ein Problem. Denn erst wenn der Mensch lernt, sich auf etwas einzulassen, kann er eine wirkliche Beziehung zur Welt entwickeln. Zudem schult konzentriertes Arbeiten die Denkdisziplin und die Reflexionsfähigkeit. 

Mit der Covid-Pandemie erhielt die Digitalisierung der Schule und des Lebens von Jugendlichen einen bis heute prägenden Schub: Durch das Versammlungsverbot verschob sich das Privatleben weiter ins Digitale und im Fernunterricht sahen sich Lehrkräfte gezwungen, ihre Arbeit digital zu gestalten. Lernplattformen erhielten plötzlich eine fundamentale Bedeutung im Schulalltag. Der Austausch von Materialien und die Kommunikation erfolgten ausschliesslich über solche Plattformen. Auch mit der Rückkehr zum Präsenzunterricht blieb der Einfluss der digitalen Kommunikation erheblich. Vielfach mutierte Digitalität seither zum Selbstzweck. Das heisst, die Geräte werden nicht nur dann eingesetzt, wenn sie einen didaktischen Mehrwert bieten, sondern weil man es halt so macht. Lehrkräfte verteilen keine Arbeitsblätter, sondern laden PDF-Dokumente hoch. Dabei können sie sich mit der Verteidigung einer digitalen Schulkultur auch ihrer eigenen Aufgeschlossenheit vergewissern und sich so vom lange gepflegten Bild des technikscheuen und leicht verstaubten Pädagogen emanzipieren.

Ein äusserst reflektierter Schüler erläuterte mir kürzlich, dass für ihn durch die Laptoppflicht das Schulische vom Privaten kaum noch zu trennen sei. Im privaten Gebrauch am Wochenende ist er immer für die Schule erreichbar, in der Schule ist das Private nur einen Klick entfernt. Dadurch habe er kaum die Möglichkeit, sich von der Schule abzugrenzen. Hier stehen die Schulen in der Pflicht, die Schülerschaft zu schützen: Pädagogik heisst, Verantwortung zu übernehmen für diese Welt und den Jugendlichen Räume zu geben, in denen sie sich entfalten können. Diesem Auftrag werden viele Schulen in der Schweiz nicht gerecht. Viele appellieren an die Eigenverantwortung. Das mag in einem liberalen Staat bei Erwachsenen angemessen sein, nicht aber bei Jugendlichen. Vom Appell an eigenverantwortliches Handeln profitieren allenfalls die Vernünftigen, die Jugendlichen mit weniger Disziplin verlieren sich. 

Zum Thema Jugend, Social Media, Bildschirmzeit oder Internetnutzung existieren Studien und Gegenstudien. Eine klare Handlungsanweisung kann die Pädagogik daraus nicht ableiten. Was in der Diskussion allerdings vielfach zu kurz kommt, ist die Frage nach dem guten Leben. Eine Frage, die sich wegen ihrer paternalistischen Haltung in der jüngeren Vergangenheit kaum jemand zu Fragen traut. Solange die Leistung stimmt, wird vieles hingenommen. Hier müssen Schulen umdenken. Meiner Meinung nach ist ein Leben mit einer Bildschirmzeit von sieben, acht, zehn oder mehr Stunden für Jugendliche kein gutes Leben. Es gibt kaum Zeit für Musse, Kreativität oder Langeweile. Dabei wäre das fundamental. Schliesslich entfaltet sich der Mensch im Tun, nicht allein im Konsum. Eine Bildschirmzeit in dieser Grössenordnung steht für eine Verarmung der menschlichen Erfahrung. Das Jugendalter ist ein Schutzraum, dessen Integrität die Gesellschaft verteidigen muss. Die Jugendlichen müssen vor der Vereinnahmung ihrer Aufmerksamkeit bewahrt werden. 

Natürlich: Die Bildschirmzeit alleine ist kein hinreichender Indikator. Ebenso wichtig ist die Qualität der Interaktion mit dem Bildschirm. Schliesslich unterscheidet sich die reizarme Lektüre in einem E-Book grundsätzlich vom passiven Tiktok-Konsum. Fundamental ist, dass junge Menschen lernen, sich online zu informieren und zuverlässige von unzuverlässigen Quellen zu unterscheiden, auch im Umgang mit KI. Digitale Medien, ihre Dynamiken und Funktionsweisen sollen kritisch reflektiert werden, Programmieren muss selbstverständlich Teil jedes Curriculums sein. Natürlich sollen die Jugendlichen auch die Möglichkeit erhalten, kreativen Tätigkeiten am Bildschirm nachzugehen: Kurzfilme erstellen, Podcasts aufnehmen oder Musikstücke zu komponieren zum Beispiel. Aber die persönlichen Laptops auf dem Pult und das Smartphone in der Hosentasche stellen für viele Jugendliche eine Überforderung dar und gehören aus dem Schulalltag verbannt.

Dafür braucht es von der Schule zur Verfügung gestellte Tablets oder Laptops, die so eingestellt sind, dass kaum Ablenkungsmöglichkeiten existieren. Es gibt Schulen, an denen werden an Elternabenden Vereinbarungen getroffen, dass die Kinder erst ab 15 Jahren ein Smartphone anschaffen. Zentral ist zudem die Erschaffung von Orten, an denen Schülerinnen und Schüler vor der digitalen Dauerreize geschützt sind und ganz klassisch mit Stift und Papier konzentriert nachdenken können und lernen, genau zu arbeiten. 

Schweden, lange Zeit digitale Vorreiternation, macht es vor und legt den Schwerpunkt seit kurzer Zeit wieder auf Wissenserwerb aus gedruckten Büchern und dem Fachwissen der Lehrkraft. In der Schweiz hat der Kanton Wallis kürzlich Smartphones an Schulen flächendeckend verboten, ähnlich wie Aargau und Nidwalden. An vielen Schulen laufen Pilotprojekte zum reglementierten Umgang mit Smartphones. Aus meiner Sicht zentral ist es, Smartphones und die privaten Rechner der Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu denken. Ansonsten verpuffen gut gemeinte Initiativen wieder, da sich die Inhalte einfach auf ein anderes Gerät verschieben. 

Was wie eine harmlose Szene wirkt – ein Fussballspiel auf dem Smartphone – verweist auf ein grundlegenderes Problem: Die Alltagslogik digitaler Reize dringt bis in die Lernräume vor. Schulen sind gut beraten, darauf nicht nur technisch, sondern pädagogisch zu antworten.

Dieser Text erschien zuerst in der NZZ am 13.09.2025.