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Fünf – vier – drei – zwei – eins

«Woran denkst du, wenn du ‹Zwischenstunde› hörst?» Das war die Leitfrage des Kreativ-Wettbewerbs «Zwischenstunde» der Zürcher Mittelschulen. Jeanne Koch hat geantwortet – mit einer Kurzgeschichte. Ihr Beitrag wurde von der Jury prämiert.

11. Juni 2021

Fünf.

Die schwarze Farbe blätterte bereits von den Zeigern ab und auch sonst war das Modell weder besonders schön noch handlich. Gebannt beobachtete er, wie sich die Sekunden nur widerwillig der Vergangenheit hinzugeben scheinen. In wenigen Sekunden werden die Zeiger übereinander liegen, zusammen verschmelzen, der Kleine wird unter den Fittichen des Grösseren nicht zu sehen sein.

Vier.

Die Uhr, die Sean von seinem Grossvater bekommen hatte, die ging rückwärts. «Grossvater», hatte er gesagt, «Grossvater, die geht ja rückwärts. Siehst du denn nicht mehr gut?» «Dann tut sie genau das, was sie tun soll», hatte der Weissbärtige geantwortet und seine Tränensäcke wurden beim Lächeln etwas faltig zusammengezogen. «Uhren gehen nicht rückwärts», widersprach der quengelige Sean, kaum grösser als die gelbe Giesskanne neben ihm. «Die Zeit geht ja voran.» «Ach weisst du, Sean …» «Nein, weiss ich nicht.» Ein Klaps auf den Hinterkopf liess das Mundwerk des Kleinen verstummen. «Weisst du Sean? Die Zeit geht nicht voran. Sie läuft ab, sie geht um. Oder davon. Aber nicht voran.» Grossvater beugte sich zum neugierigen Sean rüber, all die morschen Gelenke knackten unter der Anstrengung. Sanft stupste er Seans Kinn an, der nun also gezwungen war, in den Nachthimmel zu sehen. All die Sterne dort draussen, die funkelten und sich zeigten oder sich in den verborgenen Nischen des Weltalls versteckten und sich Seans Blick entzogen. Ja. In den Weiten des Universums verlor die Zeit an Bedeutung und plötzlich trat alles in den Hintergrund. Sowohl Grossvater als auch das Zirpen der Grillen und das kleine runde Gärtchen mit dem kleinen eckigen Häuschen dahinter. Alles was übrig blieb war Sean, der sich in den Weiten der Sterne verloren hatte, nicht mehr sicher, ob er noch existierte oder schon untergangen war. Ja. Im Universum geht die Zeit voran. Aber für ihn … geht die Zeit rückwärts. Für ihn läuft sie ab.

Drei.

Als der letzte Atemzug aus Seans Lungen weicht, ist Sean selbst schon lange nicht mehr dabei. Das Gefühl von damals schaltet sich ein, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Etwas ratlos sieht er sich um. Der Garten ist leer, wo eben noch seine Freunde und Verwandten standen. Blumen, von unwahrscheinlicher Grösse und Schönheit. Von irgendwoher hört er das Plätschern von Wasser. Vertraut. «Grossvater?», ruft er in den wuchernden Garten hinein, traut sich nicht, über die Veranda zu treten. Keine Antwort. Ein Rascheln. Das faltige Gesicht taucht zwischen zwei Apfelbäumen hervor, die so grosse und rote Äpfel tragen, dass sich der Baum unter dem Gewicht biegt. Irgendwas in dem Bild aber stimmt nicht. Vielleicht war es das Wasser, das von der Pflanze aus in die gelbe Giesskanne fliesst. Oder dass die Blumen schrumpfen. Das Grossvaters Gesichts verjüngt. Sean tritt über die Veranda, will seinem Grossvater in die Arme fallen und … fällt. Dort, wo eben noch die grüne Wiese lag, umgeben von den wunderlichsten Pflanzen, ist nichts. Er schreit, doch kein Laut durchdringt die Stille. Grossvater legt bloss den Zeigefinger an die Lippen, bevor er sich wieder zu seinen Pflanzen zurückzog. Fliessendes Wasser. Gelb. Dann verschwindet auch der Garten. Gerade noch so versucht er sich an der Veranda festzuhalten, doch seine kleinen Finger gleiten ab.

Zwei.

Er sieht auf die Uhr. Der Zeiger ist um eine ganze Stunde zurückgegangen … oder nach vorne, denn sie läuft ja rückwärts. Vor ihm steht ein Mann. Atemschläuche führen in die Hakennase und die eingesunkenen Augen liegen tief beschattet. Die Wangen sind eingefallen. Umso erschreckender ist es, als Sean sich darin erkennt. Das ist nicht er, so ist er nicht gestorben und doch weckt der Mann in ihm das Wiedererkennen des eigenen Wesens. Davon fliehen ist der erste Instinkt, denn dafür ist Sean doch gestorben: Um nicht mehr an die Welt gebunden sein zu müssen oder den eigenen Körper. Als Sean … nein, nicht Sean. Der Mann, der nicht Sean war … oder noch besser, der Mann, in dem sich der eigentliche Sean glaubte widerzuerkennen. Als dieser Mann die gelbe Giesskanne neigt, fliesst das Wasser in stetigen Tropfen über die Welt, die ihnen zu Füssen liegt. «Willkommen in der Zwischenstunde. Erkenne dich.» Die Bewegung erweckt in ihm Vertrauen. Mit grossen Augen und kleinen tapsenden Schritten geht er auf den alten Mann zu. Hilft ihm, die Giesskanne zu halten. Und dann ist Sean es plötzlich, der die Welt giesst. War es immer, der die Welt giesst. Die Stunde, zu Lebzeiten Jahre, war für Sean Williams vorüber.

Eins.

Serie «Zwischenstunde»

Der Kreativ-Wettbewerb mit dem Motto «Zwischenstunde» wurde im Dezember 2020 lanciert. 131 Beiträge trafen in den beiden Kategorien «Bild» und «Text» ein, fünfzehn davon wurden prämiert. In dieser Serie werden sie vorgestellt.