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Autorität

Ursprünglich hätte Veronika Reinl am SMS-Tag Geschichte unterrichten sollen. Aufgrund einer Planänderung steht sie plötzlich im Zimmer einer K&S Klasse mit Arbeitsblättern, die sie kurz vor Stundenanfang gedruckt hat. Es ist lange her, dass sie eine Schulklasse betreten hat, die Latein lernt. Und nun soll sie diese unterrichten.

28. Oktober 2025

Autorität. Das beschreibt am besten, was ich gerade fühle. Absolute Kontrolle und bedingungslosen Respekt. Vor mir sitzen 20 der jüngsten in unserer Schule, nein sie stehen und begrüssen mich.
«Salve magistra», ein einheitlicher Chor, trainiert auf Gleichzeitigkeit.

Autorität. Das beschreibt am besten, was ich gerade fühle. Absolute Kontrolle und bedingungslosen Respekt.

«Salvete discipuli et discipulae», antworte ich, Stimme hohl. Sie erinnern mich alle an meine ersten Jahre an der Schule, sie sehen alle aus wie ich. Kleine Körper, die von ihren Stühlen aufspringen und kleine Gesichter die erwartungsvoll nach vorne schauen. Wann habe ich das eigentlich verlernt, frage ich mich. «Cosidite queso». Und sie sitzen alle auf Befehl.

Damals hatte ich meinen Lehrer genauso begrüsst, stand auf, wenn ich aufgerufen wurde. Unter dem Blick der damals stummen Klasse, hatte ich unsere Vokabeln aufgesagt mit all den zusätzlichen Fällen, denn das Verb «befehlen» zieht den Dativ mit sich. Mein Lehrer korrigierte die Grammatik, die Aussprache und ich ahmte ihm eifrig nach. Ich habe ihn damals vergöttert.

Ich frage mich, ob sie mich auch vergöttern. Ob sie in mir den Lehrer sehen, der alles weiss und von ihnen Perfektion erwartet. Ob sie in meiner Aussprache und Metrik ihren Lehrer sehen. Oder vielleicht bin ich eine stille Klasse nicht gewöhnt, vielleicht habe ich vergessen, wie Freude am Lernen aussieht. Sie streiten sich, wer antworten darf, kleine Stimmen die trotzig aufsagen, was ihr Lehrer ihnen einbläut.

Nicht einmal Vivaldi’s Gloria klingt so bezaubernd wie ein Kind, das Latein reimt.

Sie hängen an meinen Lippen, sprechen langsam, Augen fragend auf mir. Sie fragen, ob sie es richtig machen, ob ihr «ae» nicht ein «ä» sondern ein «a-ee» Laut ist. Ich nicke, enthusiastisch, nicht einmal Vivaldi’s Gloria klingt so bezaubernd wie ein Kind, das Latein reimt. Kinderzungen sprechen die Wörter fast so sanft aus, wie sie angeblich klangen. Das lispelnde Mädchen sieht für eine Sekunde aus wie Cicero, der gegen Wellen spricht. Mein Stift tippt den Hexameter mit, und vielleicht sollte ich doch Klassik studieren, vielleicht sollte ich doch Lehrer werden.

Ein Junge kippelt auf seinem Stuhl, er lacht laut und er ist das erste in diesem Zimmer, das sich ähnlich meiner Klasse anfühlt. Als er seinem Tischnachbarn ins Wort fällt, spüre ich mich aufatmen. Die ersten Anzeichen der altbekannten Veränderung. Ich gebiete ihm Einhalt, weise ihn zurecht, er solle sich ja nichts tun, sonst ist es um meinen Kopf geschehen, noch seine Kameraden stören. Die Klasse merkt, dass ich witzle, doch seine plötzliche Stille verwundert mich. Kurz noch warte ich darauf, dass er wieder anfängt, dass er trotzig mir widerstehen wird, doch er setzt sich nur normal hin und starrt beschämt auf seine Hände. In meiner jetzigen Klasse wäre dies anders gelaufen. 

Mittlerweile gilt für mich, sowie meine Kompanen, dass Respekt verdient werden muss, unabhängig des Alters oder der Position.

Viele Lehrer geben auf, überhaupt Disziplin einzuführen, denn wie will man einem jungen Erwachsenen, der einem ins Gesicht schauen kann und nur aus Notwendigkeit lernt, einbleuen, sich zu benehmen. Mittlerweile gilt für mich, sowie meine Kompanen, dass Respekt verdient werden muss, unabhängig des Alters oder der Position.

Es ist nicht die angenehmste Situation, und ich finde mich ab und zu in chaotischen Zimmern wieder und vermisse die unschuldige Stille. Aber zugegebenermassen, es erfüllt mich mit Stolz, zu sehen, dass sich keiner etwas gefallen lässt. Das Hinterfragen und kritisieren der Lehrer, sich stark einsetzen für die Klasse, das bringt mehr fürs Leben.

Als ein Kind bei dem Quiz schummeln will, sehe ich mich mehr enttäuscht als verärgert, das hätte er ja soviel besser machen können.

Vermutlich sind es nicht die Schuldgefühle, die unsere Lehrer dazu bringen aufzuhören, so streng zu sein. Aber für mich wäre es der Anblick eines Schülers, der mit hochrotem Gesicht eine halblaute Entschuldigung murmelt. Ich habe weder das Herz dazu, kräftig oder herrisch meine Schüler zurechtzuweisen, noch die Geduld bei wiederholter Tat nicht auszurasten. Ich halte den nächsten Störenden nur mit innerem Zwang auf, der Stich in meinem Herzen ein Zeichen wieso ich keine Lehrerin sein sollte. Als ein Kind bei dem Quiz schummeln will, sehe ich mich mehr enttäuscht als verärgert, das hätte er ja soviel besser machen können.

Ich frage mich, ob sie wie ich sein werden. Gierig nach mehr Wissen, verliebt in die Geschichten und Mythen, flüssig in einer Sprache, die heute nur noch gesungen wird. Nur um dann etwas komplett anderes machen. Alles zu Boden brennen, weil sie woanders Hoffnungen kriegen. Zeit und Arbeit auf einem Feld zu verbringen, das mehr, nein das eine Zukunft hat. Um dann fünf Jahre später eine Klasse zu unterrichten und Reue spüren.

Reue, weil ich nie hätte gehen sollen und weil ich das «Salve Magister» aus meinem eigenen Mund schon so lang nicht mehr gehört habe.

Ich spreche aus, was ich gerne damals gehört hätte, dass es für jeden einen Platz gibt.

Bevor die Stunde endet, lobe ich die Klasse, betone, dass falls sie einen Gefallen an der Sprache haben, dieser nachgehen sollen. Egal wie karg oder aussichtslos die Arbeitsmöglichkeiten sind, egal wie falsch platziert man scheint in der Menge an Wissenschaftlern. Die UZH hat sehr gute Professoren und Kurse, und in England ist die Nachfrage und die Interesse an der Klassik riesig, es gibt überall Orte. Ich spreche aus, was ich gerne damals gehört hätte, dass es für jeden einen Platz gibt.