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9. November 1989, 18:45, Im Keller

Der 9. November ist historisch zweifach relevant, mit der Reichskristallnacht am 9. November 1938 und dem Mauerfall am 9. November 1989. Elena Koukas befasst sich in ihrer Maturiätsarbeit mit diesen beiden Ereignissen – in Form von zwei Kurzgeschichten. Ein Auszug.

10. Januar 2024

Die Sonne ist bereits untergegangen und der Himmel färbt sich schwarz. Nur der dunkelblaue Streifen am Horizont unterscheidet den Abend von der Nacht. Ostberlin ist hell erleuchtet, auch im Keller der Schmidts brennt schon Licht. Es wird von der einzelnen Glühbirne verbreitet, die an der kahlen Decke hängt. Wie so oft um diese Uhrzeit, hat sich eine Gruppe Jugendlicher in dem Kellerraum versammelt, um gemeinsam abzuhängen. Auf der durchgesessenen Ledercouch fläzen sich zwei Jungs in Jeans und Wollpullover. Ihnen gegenüber sitzt ein eng umschlungenes Paar in einem Polstersessel und die Clique wird vervollständigt durch die beiden jungen Frauen, die es sich auf dem geblümten Sofa bequem gemacht haben. In der Ecke flimmert ein alter Fernsehapparat und im Zentrum des Kellers steht ein flacher Tisch, den die Jugendlichen sich aus Paletten selbst zusammengezimmert haben. Darauf liegen halbleere Chipstüten und rund ein Dutzend Flaschen mit dem Aufdruck Vita Cola.

«Und dann hat der Müller gefragt: Wer hat hier das Sagen, ich oder du? Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als ich geantwortet habe: Du!» Die ganze Gruppe bricht in schallendes Gelächter aus und Thorsten grinst zufrieden und lehnt sich selbstbewusst an die Sofalehne zurück.

«Und wie ging’s weiter, Thorsti? Komm, erzähl, was hat der olle Mathelehrer dann getan?» Neugierig beugen sich die zwei Mädchen auf der geblümten Couch vor.

«Was dann passiert ist?» Thorstens Mund verzieht sich zu einem noch breiteren Lachen und zwei Grübchen erscheinen auf seinen Wangen. Schelmisch blickt er zu seinem besten Freund Heiko hinüber.

«Dann hat er mich vor die Tür geschickt. Ohne ein Wort. Er war stocksauer und hat vor Wut gekocht. Drei Minuten später ist auch Heiko rausgeflogen, weil er sich vor Lachen nicht mehr eingekriegt hat. Wir haben dann vor der Tür 30 Minuten lang Karten gespielt.» Erneut beginnen alle zu lachen und Thorsten klatscht sich zufrieden mit Heiko ab.

Plötzlich steht Jens so ruckartig auf, dass seine Knie gegen den etwas instabilen Tisch stossen. Die Flaschen kippen um und der Inhalt der Chipstüten verteilt sich auf dem Boden.

«He, pass doch auf!»

«Jens, was’n los?»

«Ach Mann, ich wollte das noch essen.»

Genervt schauen alle den blonden Kerl an, der hastig zum Fernseher herübergeht und am Lautstärkenregler dreht, um den Ton lauter zu machen.

«Leute, ich glaube das ist wichtig. Der sagt gerade was zur Ausreiseregelung!» Gebannt verfolgt Jens die schwarz-weissen Bilder, die auf dem alten Bildschirm flimmern. Gerade läuft die Pressekonferenz, bei der Günter Schabowski über verschiedene Themen informiert.

«Was soll er schon sagen. Ist doch eh immer das Gleiche. Ausreisen kannst du nur mit einem triftigen Grund, oder willst du etwa über Österreich in den Westen? Und wenn du hinter die Mauer willst und eine Anfrage stellst, wartest du Monate auf die Antwort, die eh eine Absage ist.» Genervt schüttelt Heiko den Kopf und versucht, den Lautstärkeregler zurückzudrehen. Doch Jens wehrt ihn nur abgelenkt ab und starrt weiterhin gebannt auf den Bildschirm. Nun erhebt sich auch Mandy, die zuvor noch mit mir und Silke die Sauerei vom Boden aufgewischt hat, tritt hinter Heiko und legt ihm eine Hand auf den Oberarm.

«Hey, beruhig dich, vielleicht gibt es heute ja mal was Neues. Lass ihn doch seinen Kram schauen, wenn’s ihm Spass macht, und krieg dich wieder ein.» Als Heiko zu einer Antwort ansetzt, gibt sie ihm einen leichten Kuss auf die Wange und drückt ihn in den Sessel zurück. Er resigniert mit einem Schnauben und wirft ihr einen verliebten Blick zu. Provokativ zieht er seinen Zauberwürfel hervor und beginnt, daran herumzudrehen. Auch die anderen haben sich wieder zurück auf ihre Plätze gesetzt und verfolgen nun, mehr oder weniger aufmerksam, das Geschehen im Fernseher.

Auf einem erhöhten Podest hinter einem langen Tisch sitzt, zwischen drei weiteren Personen, Günter Schabowski und liest von seinem Notizzettel einige Informationen ab. Hinter ihm hängt ein dicker Vorhang, und vor ihm befestigt befinden sich mehrere Mikrofone.

«Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden, die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.»

Einige Sekunden ist es still. So still, man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Verunsichert schauen sich Mandy und Silke an und auch Thorsten dreht sich verwirrt zu mir um. Jeder schien sich vergewissern zu wollen, richtig verstanden zu haben. Auch das Publikum, welches live bei der Pressekonferenz dabei ist, ist verwirrt. Einer der Reporter, der in der Menge sitzt, hat sich schliesslich als Erster so weit gefasst, um die Frage zu stellen, die uns allen auf der Zunge liegt.

«Ab wann tritt das in Kraft?» Selbst nicht ganz von seiner vorherigen Mitteilung überzeugt, setzt sich Schabowski seine Brille auf und blättert in den vor ihm liegenden Papieren.

«Das tritt nach meiner Kenntnis… ab sofort, unverzüglich!»

Als wäre das unser Kommando, springen wir alle auf, halten dann jedoch für einen Moment inne, als ob wir darauf warten, dass jemand «April, April» ruft, obwohl heute der 9. November ist. Als Schabowski aber weiterfährt, als hätte er nicht gerade eine lebensverändernde Ankündigung gemacht, bricht ein Chaos aus. Vor Freude, Verwirrung und Überwältigung völlig überfordert, springen wir herum, umarmen uns und reden alle durcheinander. Nur Heiko, der der Pressekonferenz trotzig nicht gelauscht hat, sitzt leicht bedröppelt auf dem Sessel und schaut zwischen uns anderen hin und her.

«Ist das wirklich wahr?» Verdattert klammert sich Silke an meinen Arm.

«Hat er das ernst gemeint?» Mit weit aufgerissenen Augen blickt sich Mandy um.

«Wir sind frei!» Thorsten wirft euphorisch ein Kissen in die Luft, welches meinen Bruder Jens am Kopf trifft, der noch immer auf den Bildschirm starrt, nicht in der Lage, das Geschehene vollständig zu realisieren.

«Und was heisst das jetzt?» Ich stelle die Frage, die sich vermutlich ganz Ostberlin in dieser Sekunde stellt, und bringe somit alle anderen wieder zum Schweigen. Heiko nutzt diesen Augenblick und fragt leicht gereizt:

«Leute, was ist denn überhaupt passiert? Was hat der Schabowski denn erzählt, um euch so aus dem Häuschen zu bringen? Kann mich mal jemand aufklären?»

«Hast du denn etwa nicht zugehört, du Dussel? Der hat gerade verkündet, dass man ab sofort durch alle Grenzübergänge aus Ostberlin rüber darf!» Aufgeregt hüpft Mandy zu ihrem Freund und zieht ihn vom Couchsessel hoch.

«Ja und wen interessi-», beherzt packt sie Heiko an den Schultern und schüttelt ihn.

«He, kannst du Mal aufhören, die beleidigte Leberwurst zu spielen, nur weil Jens Recht hatte? Hast du nicht gehört; wir können hier raus!» Völlig euphorisch wirft sich Mandy um den Hals ihres Freundes, der es nur mit Müh und Not schafft, sie aufzufangen.

«Leute, beruhigt euch doch mal. So bringt das alles nichts!» Mit diesen Worten schaffte es Jens, unsere Aufmerksamkeit zu erlangen, und einer nach dem anderen verstummt.

Der 9. November – die Maturitätsarbeit

Elena Koukas verfasst in ihrer Arbeit zwei Kurzgeschichten. Sie erzählen, was an den beiden Daten passiert ist, jedoch nicht als historische Abhandlung, sondern als Erzählung aus der Ich-Perspektive fiktiver Zeitzeug*innen.

Die frei erfundenen Personen und Abläufe werden dabei historisch eingebettet, mit dem Ziel, die Ereignisse korrekt, objektiv und gleichzeitig unterhalsam zu erzählen. Die Geschichten können einzeln gelesen werden, verständlicher wird es jedoch, wenn sie in chronologischer Reihenfolge gelesen werden, da sie inhaltlich verknüpft sind.

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