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Weltenwanderin, Künstlerin, Sammlerin

Sandra Kühne hat einen besonderen Blick. Einen «Linienblick», wie sie selbst sagt. Seit sie denken kann, sieht sie die Welt in Linien, Geflechten, Gebilden. Sie «kann gar nicht anders». Diese Sicht bildet sie in ihrer Kunst ab. In Papierschnitten, Worten und Zeichnungen.

3. Februar 2021

Auf Sandra Kühnes Website finden sich acht einprägsame Sätze über sie selbst. Ein Versuch, sich zu charakterisieren. Fünf davon hat sie ausgewählt, anhand derer sie ihr künstlerisches Schaffen und Werden reflektiert.

I AM A CARTOGRAPHER

Das ist immer der erste Satz, der auftaucht, wenn ich meine Arbeit beschreibe. Bei mir hat alles mit Kartographie und Raumerfahrung zu tun. Früher geschah dies noch zweidimensional auf Zeichnungen. Aber schon damals habe ich Wege aufgezeichnet. Wege, die ich gegangen bin und die ich dann aus meiner Erinnerung aufgezeichnet habe. Oder auch Gespräche. In einer abstrahierten Form als Liniengebilde; Linien, die zueinander führen. Erst mit der Zeit habe ich gemerkt: Es dreht sich darum, Raum zu fassen und zu erfassen.

Papier war schon immer mein Lieblingsmedium. 2009 habe ich während eines Stipendiums in einem Wohnmobil angefangen, diese Linienzeichnungen auf Papier auszuschneiden. Ich habe mich gefragt: Wie kann sich die Linie frei im Raum bewegen? Auf dem Blatt Papier war zu wenig Raum. Dann kam der Begriff der Kartographie ins Spiel.

Die Kartographie ist eine Wissenschaft. Sie hat Regeln und ist eine Welt für sich. Die komplexe dreidimensionale Realität wird zugunsten von Übersicht stark reduziert. Ich fragte mich: Wie kreiert man eigentlich einen Stadtplan? Was sind die Regeln dieses informativen Werkzeuges? Meine Herangehensweise ist dann subjektiv. Hier bin ich einzig an meine eigenen Regeln gebunden. Was bleibt mir bei einem Raum im Gedächtnis hängen? Was ist der Kern eines Ortes? Was sehe ich, was blende ich aus? Ich spiele auch stark mit Lücken. Oder mit Dingen, die man nicht «lesen» oder sogleich einordnen kann. In einer Stadt will man von A nach B kommen. Es würde einen ärgern, wenn das nicht möglich wäre. Geht man aber durch meine raumfüllenden Papierschnitt-Installationen, kann man je nach Standort nichts Konkretes im Liniengebilde erkennen. Es ist ein ambivalentes Erlebnis. Wenn man sich nur ein wenig weiterbewegt, kann es sein, dass etwas Figürliches wie ein Stuhl oder eine Pflanze auftaucht, an dem man sich wieder festhalten kann. Ich finde diese Art des Erlebens und solche Lücken spannend.

Ich wollte schon immer Räume verbildlichen. Ich glaube, ich gehe so durch die Welt. Ich kann gar nicht anders. Es ist nicht so, dass ich das bewusst entschieden hätte. Ich habe einen «Linienblick», so nenne ich das: Wie hängen die Dinge zusammen und wie könnte ich das zeichnen? Wo hat es spannende Linien oder Geflechte? Bus- oder Tramleitungen faszinieren mich beispielsweise immer wieder aufs Neue. Ebenso offene Baustellen mit Rohren im Untergrund. Solche Strukturen gefallen mir formal sehr. Auch meine Denkweise hat gewissermassen mit Geflechten zu tun. Ich denke assoziativ, verknüpfe Gedanken und Ideen spielerisch. Manchmal ergibt sich etwas daraus, manchmal bleibt es bloss beim Gedankenspiel.

I AM AN OCEANOGRAPHER

Dieser Satz entstand 2016 nach einem dreimonatigen Stipendium an einer Universität in Jeddah (Saudi Arabien), am Roten Meer. Ich habe dort ein neues Element entdeckt: das Wasser. Während Kartograph*innen sich an Land bewegen, ist die Ozeanographie die Wissenschaft des Wassers, des Ozeans. Sie hat etliche Unterdisziplinen, die für mich sehr spannend sind. Ich habe im Austausch mit den dortigen Wissenschaftler*innen viel gelernt: über Korallen, den Salzgehalt des Wassers, Plankton und über die Symbiose zwischen Algen und Korallen. Das Ökosystem Meer ist von unzähligen Faktoren und Symbiosen abhängig und funktioniert nur, wenn das System im Gleichgewicht ist. Diese Thematik der fragilen Balance interessiert mich auch in meiner eigenen Arbeit stark.

Ich war viel auf dem Wasser oder am Schnorcheln. Das war unglaublich toll, weil es für mich ein neues Element war. Im Wasser schwebend, schnorchelnd, hatte ich keinen Anhaltspunkt und keine Orientierung. Ich fragte mich: Wie kann ich meine Wege im Wasser «übersetzen» und sie subjektiv umsetzen? Es entstanden kleinere Papierschnitte der Schnorcheltouren. Auf dem Papier habe ich mit Salzwasser und Tusche experimentiert. Je nach Salzgehalt des Wassers entstanden unterschiedlichste Kristallisierungen oder kleine Verästelungen. Die Strukturen glichen Satellitenbildern eines Riffs oder Aufnahmen im Mikrobereich. Die Papierschnitte habe ich dann auf diesen blauen Papieren präsentiert, wobei die Papierschnittlinie nicht auf den ersten Blick erkennbar ist.

I AM A DISCOVERER

Bei diesem Satz denke ich an Atelierstipendien. Die bisher tollste Erfahrung meines Lebens war ein Stipendium in Spitzbergen, einer norwegischen Inselgruppe. Ich verbrachte 2014 drei Wochen auf einem Schiff im Nordpolarmeer. Mit mir zwanzig andere Künstler*innen. Wir waren eine Schicksalsgemeinschaft. Wir fuhren durch das Eis im Wasser, vorbei an Gletschern in Fjorden. Es war wirklich magisch.

Ich liebe es, wenn ich zwei, drei Monate an einem fremden Ort auf Entdeckungsreise gehen darf. Etwas zum ersten Mal zu sehen, das hat so eine schöne Qualität. Sei es in Spitzbergen, Saudi-Arabien oder Berlin. In Berlin habe ich zum Beispiel viele Hinterhöfe erforscht. Ich hatte so viel Zeit, da ich nicht im Alltag eingebunden war. So konnte ich mich treiben lassen. Ich konnte einfach loslaufen und schauen, wo ich lande.

Manchmal bedauere ich es, wenn ich merke, dass ich nicht mehr so emotional und begeisterungsfähig bin, wie ich das als Zwanzigjährige war. Auch wenn ein Ort neu ist, habe ich meine Strategien und Routinen, wie ich einen Ort erkunde. Ich glaube aber, dass ich immer neugierig bleiben werde. Das ist eine individuelle und charakterliche Frage. Man kann mit Zwanzig ängstlich sein oder mit Achtzig noch Abenteuer planen.

Ob ich mein Leben lang Kunst machen werde, weiss ich aber nicht. Vielleicht ist es dann auch mal gut. In den letzten Jahren hat sich mein Fokus mehr aufs Unterrichten verlagert. Im Austausch zu sein und Kunst zu vermitteln, gibt mir so viel zurück. Die Arbeit als Lehrerin ist erdend und bildet einen guten Kontrast zum Kunstmachen. Zu unterrichten ist sehr sinnstiftend und bringt Ruhe und Struktur in mein Leben, die ich sehr schätze. Zugleich gefällt mir, dass mir das Unterrichten viel Freiheit bietet.

Zu meinen liebsten Momenten gehören diejenigen, wenn die Schüler*innen in einer ernsthaften Konzentration versunken arbeiten und es ganz still ist. Nur ab und zu ist dieser helle Klang zu hören, wenn ein Schüler seinen Pinsel im Wasserglas auswäscht oder ein Klacken, wenn eine Schülerin den Farbstift fallen lässt, um zu einem neuen zu greifen.

Meine Arbeit als Künstlerin inspiriert mich als Lehrerin stets aufs Neue. Ich entdecke gerne selbst immer wieder neue Themen, sei dies in Literatur, Museen, Artikeln oder Gesprächen mit anderen Menschen. Diese Haltung bringe ich beim Unterrichten automatisch mit ein.

I AM A COLLECTOR

Ja. Sammlerin (...) das trifft auf ganz verschiedenen Ebenen irgendwie zu. Einerseits sammle ich Eindrücke, wenn ich umhergehe. Linien, Konstellationen, Muster und Oberflächen. Oder schöne Wörter. Wenn ich eines in der Zeitung finde, schneide ich es aus. Zum Beispiel letzthin das Wort «Seilschaft». Ich mag, wie das Wort aussieht und seinen Klang. Und ich liebe Seile und Schnüre, weil das Linien sind. Ich habe eine Zeit lang auch mal Schnürsenkel gesammelt. Wieso? Einfach so, fürs Gefühl. Im Atelier habe ich sie dann manchmal rausgeholt, auf den Boden geworfen und die entstandenen Liniengebilde betrachtet oder skizziert.

Ich sammle jegliche Art von Papier. Ich sammle Eindrücke und Gedanken und schreibe diese in mein Skizzenbuch. Es dient mir als Archiv. Wenn ich mal nicht weiterkomme, stöbere ich darin. Auf meinem Computer herrscht eine unsortierte Ordnung. Ich habe etliche Ordner mit Namen wie «Linien», «What I like» oder «Inspiration temporär». Ich weiss oft nicht, was wo abgelegt ist. Aber so komme ich auf neue Ideen. Das ist eine meiner vielen Strategien, ich nenne sie: «Der Zufall hat grosse Hände.»

Mein Atelier ist wie ein dreidimensionales Skizzenbuch – an Wänden und Regalen, auf dem Boden und auf mehreren Tischen sind Notizen, Fotos und Skizzen verstreut. So bin ich immer parat, wenn ich mein Atelier in der Roten Fabrik betrete.

I AM A SAILOR

Diese Sätze sind ja alle Behauptungen. Bei diesem trifft das noch mehr zu. Dieser Satz ist ein Wunsch. Ganz konkret: Ich möchte gerne segeln können und das Wasser als neuen Raum entdecken. Lustigerweise ist Wasser aber nicht so mein Element. Ich fürchte mich vor der Tiefe und dem, was unter der Oberfläche verborgen ist, also auch vor möglichen Seeungeheuern. Seekarten aus dem Mittelalter und der Frührenaissance faszinieren mich sehr. Einerseits sind sie schon sehr präzise kartographiert, und gleichzeitig wurden oft auch noch Monster in die Meere gezeichnet. Eine schöne Mischung aus Phantasie und Wissenschaft, wie ich finde.

Ich würde gerne Seekarten lesen können. Es ist eine spezielle Darstellungsform. Man sieht die Linienverbindungen, um von Küste zu Küste zu segeln. Hinzu kommen dann Wind und Meeresströmungen, sodass es keinen klar vorgegebenen Weg gibt. Segler*innen würden da widersprechen. Für mich ist das Meer wie eine leere Fläche, auf welcher ich mir meinen eigenen Weg suchen muss.

Jahrelang dachte ich, dass ich eines Tages in die Antarktis segeln würde. Es gibt viele solche touristischen Angebote; mit einer Gruppe und einem Dreimaster ab ins Abenteuer. Ich habe stundenlang Bilder der Touren angeschaut, Websites durchforstet. Auf dem 40. Breitengrad südlicher Breite herrschen starke und unbeständige Winde. Das hat mich angeregt und fasziniert – aber auch geängstigt. Ich habe mir vorgestellt, wie stark es mich auf dem Schiff hin- und herwerfen würde, welche Art von Zeichnungen dabei entstünden. Schlussendlich stelle ich mir das aber doch lieber nur vor und erschaffe dann aus der Fantasie etwas Neues. Vielleicht fast so, wie frühe Kartographen aus Angst vor der Leere Monster erschaffen haben.

Zur Person

Sandra Kühne (44) ist in Windhoek, Namibia geboren. Sie arbeitet als Künstlerin und Lehrerin für Bildnerisches Gestalten, unter anderem an der Kantonsschule Uetikon. Ihr aktuelles Projekt heisst «Subjektive Kartographie Wartegg». Im Schlosspark Wartegg oberhalb des Bodensees steht eine «Cabane» (Hütte) von Jean Nouvel, die an der Expo.02 präsentiert wurde. Im Innern: Sandra Kühnes Rauminstallation in Form einer räumlichen Papierzeichnung, die die Landschaft rund um die Cabane zeigt. Die Ausstellung kann bis Ende Februar 2021 kostenlos und fast jederzeit besucht werden.