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Hier ist mein Paradies

Storytelling ist die Kunst, eine Geschichte gut zu erzählen. Aber was heisst schon eine Geschichte? Wenn Jonel Bradjan zu erzählen beginnt, öffnet sich das Buch eines ganzen Lebens, das so viele Geschichten enthält, dass kein Mensch auch nur annähernd in der Lage wäre, sich an alle zu erinnern. Ausser einer – er selbst.

21. Oktober 2020

Wie ein Wasserfall sprudeln die Worte aus ihm heraus und reissen den Zuhörer mit in eine Welt, die keinen Anfang und kein Ende hat. Ein weiter Weg liegt hinter ihm, ein langes Leben, das ihn gezeichnet, geprägt und zu dem gemacht hat, was er heute ist. Die Kantonsschule im Lee hat einen Laboranten gesucht, der in Sachen Chemie alles im Griff hat und Lehrpersonen und Schüler*innen logistisch unterstützt. Gekommen ist ein Mensch, der von sich sagt, hier hätte er sein Paradies gefunden. Wer sagt so etwas? Die Geschichte von Jonel Bradjan.

Ein Dorf in der Nähe von Belgrad

Jugoslawien vor gut 60 Jahren. Tito ist an der Macht, die Welt scheint in Ordnung. Der kleine Jonel wächst in einem Dorf unweit von Belgrad auf, zieht mit seinem Grossvater, einem Schäfer, übers Land, und als die Eltern ausziehen, um ihr Glück in Deutschland zu versuchen, bleibt er bei den Grosseltern zurück. Bald schon zeigt sich sein handwerkliches Geschick, gepaart mit der Neugier und dem Wissensdurst eines heranwachsenden Naturwissenschaftlers. Also beginnt er an der landwirtschaftlichen Universität in Belgrad ein Studium als medizinischer Labortechniker. Um sich das Studium zu verdienen, kommt er schon bald auf die Idee, zusammen mit seinem besten Freund eine Kükenproduktion aufzuziehen, die gutes Geld verspricht. Man stelle sich vor: Nach 21 Tagen wirft ein Küken 2,5 DM ab – ein halbes Vermögen, zumal sich diese Zahl beliebig multiplizieren lässt.

Aus der Idee wird nichts, weil sich der Freund verliebt und heiratet. Jonel versucht beim Militär anzuheuern, aber ein Platz als Infanterist bleibt ihm vorerst verwehrt. So entschliesst er sich, seinen Eltern nachzufolgen und ohne Arbeitserlaubnis nach Deutschland auszuwandern. Ein schwieriges Unterfangen, erinnert er sich: «Ich durfte nicht arbeiten, aber ich habe nie aufgegeben und immer etwas versucht.» Deutschkurs, drei Semester Chemie an der Uni Tübingen, Begegnung mit dem Übersetzer Zarko Radakovic, der allgemeine Weltliteratur studierte und zu seinem guten Freund wird, Engagement für die serbische Gemeinschaft, Aufbau einer Jugo-Liga in Fussball, Schach und Folklore, und – als Höhepunkt – Organisation des Tags der Jugend zu Ehren von Titos Geburtstag.

Aus dem Nichts ins Scheinwerferlicht

17. Mai 1980, Stuttgart, Neckarstadion. Am 4. Mai stirbt Tito, und jetzt ist es unserem Jonel vorbehalten, noch vor der offiziellen Trauerfeier in Belgrad des Staatspräsidenten und Übervaters zu gedenken. 42'000 strömen ins Stadion, und Jonel Bradjan tritt ans Mikrofon. Plötzlich ist er ein gefragter Mann. Die Fernsehstationen reissen sich um ihn, ein Interview folgt dem anderen – nicht zuletzt deshalb, weil die Feier 500'000 DM abwirft, die bis auf den letzten Pfennig in den Tito-Fonds fliessen.

Nur die deutschen Behörden zeigen sich unbeeindruckt. «Trotz meiner vielbeachteten Tätigkeit musste ich die ganzen Jahre unten durch. Als ich nach vier weiteren Jahren die versprochene Arbeitsbewilligung nicht bekam, war mir klar, dass ich in Deutschland nicht willkommen, sondern weiterhin nur geduldet war.» Es wird wieder still um ihn. 1987 entschliesst er sich, nach Jugoslawien zurückzukehren, wo er zwölf Monate Militärdienst leistet.

Zurück zu den Wurzeln – auch privat

Stationiert ist Jonel Bradjan in der Kaserne von Pivka. Er schliesst Freundschaften, lernt den Betrieb kennen und denkt schon wieder weiter. Diesmal träumt er von einem Schrottplatz, der ihn reich machen wird. Sein Geschäftsmodell: günstige Mercedes-Occasionen importieren, Bosch-Ölpumpen ausbauen, teuer verkaufen. Aber wie das Leben so spielt, lernt er just zu dieser Zeit über einen Freund seine spätere Frau Klaudija kennen. Sie ist in Thayngen aufgewachsen und wohnt nach wie vor bei ihren Eltern, die beide bei Knorr arbeiten.

Und so kommt es, dass sich das Leben von Jonel Bradjan einmal mehr auf den Kopf stellt. Nach unzähligen Briefen und gegenseitigen Besuchen heiraten die beiden im November 1990, und ehe sich Jonel versieht, arbeitet auch er bei Knorr – als Mädchen für alles. Jetzt kann er zum ersten Mal seit langem wieder tief durchatmen: Er ist glücklich in seiner Beziehung, und als Gabelstapelfahrer, Maschinist, Palettisierer, Logistiker und Betriebsfeuerwehrmann machte er einen derart guten Job, dass er schon bald in die Qualitätssicherung aufsteigt. Die dunklen Jahre in Deutschland sind weit weg – endlich ist Jonel angekommen.

Zwischen Geld und Geist

Das Glück bei Knorr endet mit der Übernahme der Firma durch Unilever. «Die familiäre Atmosphäre war von einem Augenblick auf den nächsten wie weggeblasen. Die fremden Manager sprachen von Restrukturierung, zerstückelten den Betrieb aber in Wahrheit und dünnten ihn aus. Sie bewirkten wenig, zerstörten aber den Geist der Firma. Und als dann auch noch das Labor schliessen musste, stand ich wieder einmal auf der Strasse.»

Per Zufall erfährt Jonel, dass bei Orell Füssli eine Stelle in der Logistik frei wird. Hier dringt er so richtig ein in die Seele der Schweiz, denn er hilft tatkräftig mit, unsere Banknoten zu drucken. Acht Jahre lang ist er im Fort Knox der Schweiz tätig, zuerst als Logistiker, dann in der Qualitätssicherung. Trotz höchster Sicherheitsstufe geniesst er anfangs noch gewisse Freiheiten, die im Lauf der Jahre aber immer stärker eingeschränkt werden. «Es begann mit immer neuen Vorschriften und endete in der totalen Kontrolle», erinnert sich Jonel Bradjan. «Dies führte dazu, dass wir kaum mehr zur Arbeit kamen, weil wir ständig überwacht wurden.» Und wieder blitzt es auf, dieses Gefühl von Freiheit und Gerechtigkeit. Es macht ihn stark und verletzlich zugleich, doch Jonel wäre nicht Jonel, wenn er sich verbiegen würde.

Die beste Schule

Also streckt er seine Fühler wieder aus. Und siehe da: Im Sommer 2017 erreicht ihn während seiner Ferien in Belgrad ein Anruf der Kantonsschule im Lee, die er heute als «die beste Schule aller guten Schulen in der Schweiz» bezeichnet. Nach einem kurzen Gespräch und der genauen Prüfung seines Dossiers sind sich beide Seiten einig: die Kanti im Lee und Jonel – das passt. Es folgt die Kündigung bei Orell Füssli, und schon zwei Monate später «geht das Märchen weiter». Ja, man könnte auch sagen: Jetzt beginnt es erst richtig.

Stolz führt Jonel seinen Gast durch die Räumlichkeiten des Provisoriums, in dem seine Laboratorien untergebracht sind. Er zeigt auf Regale, zieht Schubladen, öffnet Schränke. Alles hat seine Ordnung, und wenn eine Lehrperson einen Wunsch hat oder Material für die nächste Lektion benötigt, ist Jonel zur Stelle. Stolz zeigt er den preisgekrönten Kugelschreiber, der im Lee eloxiert wurde. Sorgfältig bereitet er die Gefässe, die eine Klasse versilbert hat, zum Trocknen vor. Und das Desinfektionsmittel, das nach Lavendel duftet, hat er selbst gemischt.

Ich lebe jetzt

«Jugend ist Trunkenheit ohne Wein», hat schon Johann Wolfgang von Goethe gesagt, und für Jonel Bradjan ist sie das Lebenselixier. «Ich liebe meine Arbeit allein schon deshalb, weil ich meine Schüler*innen so gern habe», schwärmt Jonel. «Sie sind voller Leben, geniessen das Zusammensein und strotzen nur so vor Energie. Ich bin überzeugt, dass wir von vielen von ihnen noch viel Gutes hören werden.» Und schon ist Jonel bei der Ahnengalerie der Kanti im Lee angelangt: «Richard R. Ernst, der 1991 den Chemie-Nobelpreis gewann, ging hier zur Schule, genauso wie der Chemiker Hans Rudolf Christen, dessen Lehrbücher Generationen von Gymnasiast*innen geprägt haben.»

Und dann ist er wieder zurück bei den Jugendlichen. «Ich habe ein super Verhältnis mit ihnen – vielleicht auch deshalb, weil sie mich an meine eigenen Anfänge erinnern.» Schwingt da leise Wehmut mit? «Nein, ganz bestimmt nicht», sagt Jonel Bradjan, «ich bin stolz auf meine Geschichte. Ich hatte kein einfaches, aber immer ein gutes Leben. Und mit dem Lee habe ich richtig Glück gehabt. Aber ein bisschen Glück braucht jeder Mensch. Er kann nicht alles selber bestimmen – er soll froh sein, dass es ihn überhaupt gibt.»

Drei Jahre noch, und dann geht Jonel in Pension. Wirklich? «Keine Ahnung. Im Moment bin ich hier glücklich, und drei Jahre sind eine lange Zeit. Warum soll ich mir jetzt schon den Kopf darüber zerbrechen? Ich lebe im Hier und Jetzt.»