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«Bühnebelüchtigsmeischter-, Taxi- und Segelschii – das sind mini drü Uuswis»

Auf sein Leben zurückzublicken kann unterschiedlich interessant sein. Bei manchen ist der Lebenslauf eine kurze direkte Strecke, bei anderen ein lang gewundener Pfad, der ungeahnte Gebiete durchquert. Peter* arbeitet als Bühnenmeister in der Aula Rämibühl und schaut einige Jahre vor der Pension auf seinen Werdegang zurück. Sein beruflicher Weg endet nicht nur am Rämibühl, sondern startete auch dort: als Schüler am MNG Rämibühl.

10. Dezember 2021

Peter kennenzulernen, ist ziemlich schwierig – wenn man nicht bei einer Aufführung der Aula Rämibühl mitwirkt. Auch wenn er ein sehr offener Mensch ist, steht er bei Aufführungen meist die ganze Zeit hinten beim Lichtpult. Wenn man ihn jedoch während der Proben kennenlernt, ist das Gegenteil der Fall. Er scheint überall zur gleichen Zeit zu sein, überall zu helfen. Etwas funktioniert bei der Technik nicht? Geh zu Peter. Du hast beim Tanzen ein Knie ins Gesicht bekommen? Geh zu Peter. Und dazwischen findet er noch Zeit, dich aufzumuntern und immer ein offenes Ohr für alle zu haben. Wie kommt es, dass er zur guten Seele der Aula geworden ist?

«Ich stehe nicht so gerne im Mittelpunkt»

Als ich ihn das erste Mal für ein Interview anfrage, antwortet er: «Als scheues Wesen aus dem vergangenen Jahrhundert wäre ich ja denn auch nur unter einem Pseudonym zu casten – so in etwa wie CRO und mit Maske.» Jemand der beim Theater arbeitet und anonym bleiben möchte? Nicht gerade zwei auf den ersten Blick vereinbare Standpunkte. Doch das weckt mein Interesse noch mehr und so treffe ich Peter eine Woche später in der Aula Rämibühl. Brav habe ich Interviewfragen vorbereitet, die ich jedoch schnell wieder verwerfe. Die Frage «Als was hast du gearbeitet?» kann auch in einem Interview nicht vollständig beantwortet werden. Es sei nur so viel gesagt: Die Reihe an Tätigkeiten ist sehr viel länger, als hier im Text auch nur erwähnt wird.

«Und denn hani i min Stüüruswiis gschribbe: Arbeiter»

Peter wird vor 63 Jahren in eine «Lehrerfamilie» geboren. Doch anders als seine Eltern will er kurz vor seiner Matura nicht mehr zur Schule gehen und beschliesst kurzerhand, Taxifahrer zu werden. «Ich han eifach nüme welle Schüler sii. Und denn hani i min Stüüruswiis gschribbe: Arbeiter.» Er beginnt, jede Nacht mit dem Taxi herumzufahren und Geld zu verdienen.

Doch er hat noch eine weitere Beschäftigung: Mittwochs drückt er die Schulbank an der Volkshochschule am Hirschengraben und lernt Spanisch. Wieso? Sein Ziel ist, nach Südamerika zu fliegen. Als er 4000 Franken zusammen hat, steigt er ins Flugzeug nach San Diego, um von dort aus nach Südamerika runter zu reisen. One way, mit langen Haaren und Studentenfutter im Gepäck.

Doch schon beim Umsteigen in New York wird er aus dem Verkehr gezogen, das Studentenfutter konfisziert. In San Diego wird er in einem teuren Hotel einquartiert und ihm wird mitgeteilt, er müsse in drei Tagen über die Grenze sein. Was man dann als erstes macht? Für Peter ganz klar: Er geht in den Zoo.

«Laisse-le faire»

Ich frage ihn, was seine Eltern dazu gesagt haben, als ihr knapp volljähriger Sohn mit der Hängematte im Gepäck nach Südamerika flog. Sein Vater habe immer gesagt: «Laisse-le faire.» Und so kommt er dann ein Jahr später aus Brasilien zurück. Mit vielen Erfahrungen und Portugiesischkenntnissen im Gepäck.

Doch was nun? Wieder Taxi fahren? «Nä.» Also heuert er bei einer Firma an, die Gelegenheitsarbeiten vermittelt.

Doch die 80er-Jahre brechen an und mit ihnen die Opernhauskrawalle und die Zeit des AJZ: «Ich ha denn die Verletzte mit em Taxi usegfahre. Ich bi nie en Teil devo gsi, aber ha d Lüt usegholt.» Und es passiert noch etwas in dieser Zeit: Die Rote Fabrik wird als Versuch gegründet und Peter landet in der Betriebsgruppe, die mit Subventionen Veranstaltungen organisieren darf. Wenn er davon erzählt, unterstreichen seine Hände unaufhörlich seine Erinnerungen.

Auch dort macht er ein bisschen von allem: flickt das Haus, schweisst, macht die Türkontrolle, macht zum ersten Mal die Beleuchtung und rettet nach den Konzerten die Mikrophone, bevor sie geklaut werden. Aber es gibt auch Schattenseiten: «Ich ha immer s Bluet, s Bier und d Pisse am Bode i de grosse Halle mit em Füürwehrschluch usegsprützt am Morge. Das sind Berge a Plastikbecher gsi, nach dene Punkkonzert.» Manchmal sind die Musiker zu betrunken, um aufzutreten. Peter will das Bild verkörpern eines jungen Mannes, der kräftig ist und immer überall dabei.  Mitwirken und gebraucht werden. Er schmunzelt: «Denn hetts immer gheisse: Peeeeeetiiiii.»

Und dann, nach drei Jahren, trifft er auf eine Frau. Sie ist Schauspielerin in Berlin und kurzerhand zieht er zu ihr nach Deutschland. Und bleibt die nächsten 28 Jahre dort.

«… i nere Stadt wo niemer gwüsst het: wem gehört sie jetzt?»

Er macht die ganze Technik bei der Theatergruppe und bekommt sogar eine kleine Rolle: «Sie hend en Statist brucht, wo Bier trinkt uf de Bühne. Die blaue Figur. Ich ha en blaue Overall agha, en blaue Chübel mit blauer Farb, e Rolle, bi uf enere Leitere gsi und ha im Theaterruum d Wand blau gmacht.» Er ist dabei, als die Mauer fällt, klopft den durch die Menschenmenge fahrenden Ostberlinern aufs Autodach, hat das Gefühl: «Jetzt wird Gschicht gschribbe.»

Berlin ist ein Vakuum, es gibt an den verrücktesten Orten Partys in einer Stadt, in der niemand weiss: Wem gehört sie jetzt? Und in all dem Trubel erbt Peter Geld von seiner Grossmutter. Also fährt er durchs Umland und kauft ein altes Restaurant, welches er zu einem Theaterhaus umbaut. Plötzlich besitzt er 300 Quadratmeter Land, hält das ganze Haus in Ordnung, heizt das Grundstück, ist bei diversen Theaterprojekten dabei und unterrichtet nebenbei auch noch Theaterpädagogik in Berlin. «Immer Arbet mit dem Huus, aber eh riise Freud. Immer Theaterprojekt, all hend aglüüte. Ich ha immer a drü Ort gschafft.»

Während Peter von seiner Zeit in Berlin erzählt, wechselt sein Blick zwischen verträumt und nachdenklich hin und her. Doch dann packt ihn Mitte vierzig eine, wie er selbst sagt, Midlife-Crisis. Er trennt sich von seiner Freundin und, nach einer Zeit im VW-Bus, zieht er mit einer jüngeren Frau zusammen. Was er an Geld nicht im Theater verdient, stockt er an der Börse auf.

«Und denn bini zrugg id Schwiiz cho»

Auf der Beerdigung seines Vaters trifft er eine ehemalige Primarschulfreundin und nach fünf Jahren Fernbeziehung zieht er zurück in die Schweiz, arbeitet zuerst ein Jahr als Hausmeister am Rämibühl und wird danach Haus- und Bühnenmeister am Rämibühl. Was er an diesem Job mag? «Es sind immer ganz verschiedni Mensche. Jetzt isch d Theatergruppe obe am probe, denn isch wieder es Chinderballett … Du hesch immer mit allne Generatione z tue. Alli. Und mit allne bisch per Du. Und du hocksch uf de Prob und alli sind so wie du und ich jetzt: Wo sich nüt vorspilled. Alli sind direkt.»

Er selbst sagt, dass er gerne am Kern des Geschehens ist, aber nicht im Mittelpunkt und ich denke, dass selten jemand das so gut hinbekommen hat wie er. Er war bei der Arbeit und bei historischen Ereignissen immer dabei und wenn er von seinem Leben erzählt, merkt man, dass er alles genau vor sich sieht.

Ganz am Ende des Gespräches erwähnt Peter noch, dass er in Berlin auch ein Heilpraktikerstudium absolviert habe. Wie er das auch noch geschafft hat? Ich weiss es nicht.

Jessica Thalmann hat an unserem Kreativitätswettbewerb «Zwischenstunde» teilgenommen, ihr Beitrag wurde von der Jury prämiert. Als Preis hat sie ein Praktikum bei «Die Zürcher Mittelschulen» gewählt und im Zuge dessen diesen Beitrag erstellt.