Was läuft da zwischen Fuchs und Rabe?
Das Thema Biodiversität liegt ihr seit Jahren am Herzen. Sie interessiert sich für naturnahes Gärtnern, befasst sich mit Wildpflanzen und Blumenwiesen und hält Ausschau nach Lebensräumen für Igel, Libellen, Insekten und Lurche. An ihrer Schule wird sie fündig. Und macht sich an die Arbeit.
22. Juli 2021
Lehrpersonen sind eine rare Spezies. Umso erstaunlicher ist Ihre Artenvielfalt. Da gibt es bunte Hunde, schräge Vögel, schlaue Füchse, einsame Wölfe, komische Käuze, graue Mäuse, giftige Schlangen und das eine oder andere zarte Pflänzchen. Ein schönes Beispiel von gelebter Biodiversität. Sie zu erhalten, hat sich Kim Schlichenmaier zur Aufgabe gemacht. Nicht im Lehrer*innenzimmer. Sondern im Park der Villa Schöllergut.
Die Entdeckung
Kim Schlichenmaier unterrichtet Bildnerisches Gestalten an der Kantonsschule Enge. Sie tut dies inmitten einer grosszügigen Parklandschaft, die zur Villa Schöllergut gehört und von den Kantonsschulen Freudenberg, Enge und Liceo Artistico vielseitig genutzt wird. Eines Tages entdeckt sie weit hinten, am Rand der Anlage, ein Stück Land mit ein paar Blumenbeeten. Die alte Gärtnerei ist ein blinder Fleck, vergessen, verdorrt und seit Jahren nicht mehr bewirtschaftet. Was für ein Ort, denkt sie sich, viel zu schade, um vor sich her zu gammeln. Und macht sich daran, dies zu ändern.
Ich sagte mir: Wenn nicht jetzt, wann dann?
«Naturschutz und Biodiversität sind Themen, die mich seit Jahren umtreiben», sagt die engagierte Lehrerin. «Ich wollte mehr darüber wissen und habe einen Kurs von Bird Life besucht – einem Verein, der sich für praktische Diversitätsförderung einsetzt.» Hier begegnet sie erstmals Begriffen wie Wandkies, Wildstauden und Wiesensalbei, macht sich mit den Eigenschaften verschiedener Böden vertraut und lernt die wichtigsten Grundregeln zum Aufbau eines biodiversen Gartens kennen. «Fast gleichzeitig bin ich auf die alte Gärtnerei gestossen und sagte mir: Wenn nicht jetzt, wann dann?»
Nach vielen Gesprächen, unzähligen Gestaltungsideen und Abklärungen mit Denkmalschutz und Hochbauamt nimmt das Projekt Fahrt auf. «Ich hatte kaum Gegenwind», erinnert sich Kim Schlichenmaier, «denn alle fanden, dass meine Initiative Sinn macht und zur richtigen Zeit kommt.» Kaum zu glauben, dass dies erst zwei Jahre zurückliegt. Wer sich heute umschaut, sieht eine Anlage, die zu neuem Leben erwacht ist. Nicht nur die Pflanzen, auch die Menschen blühen regelrecht auf.
Schöne neue Welt
Im Lockdown im Frühjahr 2020 fuhr ein kleiner Bagger auf, hob drei Beete aus und befüllte sie mit Wandkies – einem mageren, porösen Boden, den die Pflanzen lieben. «Im April haben wir dann mit einer Klasse 300 Wildstauden eingesetzt, die recht teuer waren. Umso dankbarer bin ich, dass Bird Life die Kosten dafür übernahm.» Gut 20 Sorten sind gepflanzt und warten nur darauf, endlich zu spriessen. Libellen, Mücken, Bienen & Co. dürfen sich freuen.
Und sonst? In weiteren Beeten wächst Gemüse, für Kletterpflanzen sind Drähte gezogen, eine Blumenwiese wird nur zweimal jährlich gemäht, ein Igelhaufen ist angelegt, auch ein Teich für Amphibien darf nicht fehlen. «Das Potenzial ist riesig», sagt Kim Schlichenmaier lachend, «und ich kann hier mehr oder weniger tun und lassen, was ich will. Ein Traum, den die Schulleitung erst noch mit einem grosszügigen Geldbetrag unterstützt!» Den passenden Titel hat sie auch schon erhalten: Sie ist die Biodiversitätsbeauftragte für den ganzen Park und Anlaufstelle für Fragen, Wünsche und andere Anliegen.
Wenn sie ihre Gedanken ordnen will, zieht sie sich in das windschiefe Gärtnerhäuschen zurück, das nach altem Holz riecht und wie aus der Zeit gefallen ist. Unter dem Dach lagern ein paar Töpferarbeiten – erste Gehversuche von jungen Künstler*innen, die sie vor dem Zerfall gerettet hat. Hier findet sie Ruhe und etwas Abstand, oft aber auch Schutz vor dem Regen.
Praktischer Anschauungsunterricht
Wikipedia bezeichnet Biodiversität als «Bewertungsmassstab für die Fülle unterschiedlichen Lebens in einem bestimmten Landschaftsraum oder in einem geographisch begrenzten Gebiet.» Unterschieden werden dabei «die Zahl der Varianten unter den Mitgliedern derselben Art, zweitens die Artenvielfalt und drittens die Menge der Ökosysteme oder Lebensräume wie Biotop, Biom oder Ökoregion».
Ganz freiwillig ist das zwar nicht, aber wenn sie einmal da sind, macht die Arbeit im Garten fast allen riesig Spass.
Im Reich von Kim Schlichenmaier ist das alles im Übermass zu finden – sehr zur Freude der Schulklassen, die zu Besuch kommen. «Die Idee war von Anfang an, die Schüler*innen in das Projekt einzubinden. Wir wollten ihnen die Möglichkeit geben, aktiv beim Aufbau mitzuhelfen.» Also setzte sie sich mit sich Ursina Gloor zusammen, die an der KEN für den Akzent «Internationale Zusammenarbeit und Nachhaltigkeit» zuständig ist. In jedem Semester finden hier interdisziplinäre Module statt, in denen verschiedene Akzentthemen vertieft werden. So behandeln die Sozialwissenschaften Bereiche wie Migration, Strukturwandel und internationale Organisationen, während sich die Naturwissenschaften mit Themen wie Energie, Ökobilanzen oder eben Biodiversität beschäftigen.
«Wir waren uns schnell einig, wie wir die bestehenden Gefässe nutzen könnten, um die Schüler*innen sozusagen auf dem eigenen Schulgelände mit dem Thema Biodiversität vertraut zu machen», sagt Kim Schlichenmaier. «Im Rahmen unseres Nachhaltigkeitstages werden die ersten Klassen von ihren Klassenlehrpersonen dazu ‹verdonnert›, einen praktischen Einsatz bei mir zu leisten. Da geht es dann richtig zur Sache. Ganz freiwillig ist das zwar nicht, aber wenn sie einmal da sind, macht die Arbeit im Garten fast allen riesig Spass.»
Sie, also wenn’s mit dem Gymi nicht klappt, werd ich im Fall Gärtnerin und Poetin.
Gerade erst war eine Klasse da und hat ein Beet umgegraben. Mittendrin stand ein Tännchen, das ausgegraben und umgetopft werden musste. «Wie sich die Mädels ins Zeug legten, war einfach toll. Sie wollten gar nicht mehr aufhören, bis das Beet geebnet und das Tännchen im Topf war. Und dann kommen immer wieder Bemerkungen wie: ‹Sie, also wenn’s mit dem Gymi nicht klappt, werd ich im Fall Gärtnerin und Poetin.› Solche Reaktionen freuen und berühren mich immer wieder.»
Work in progress
Erde umgraben, mit der Karrette Kies transportieren, Würmer anfassen, Pflanzen setzen, die eigene Kraft spüren, sich verausgaben, schwitzen, müde werden. Das sind ganz neue Erfahrungen für die Schüler*innen, die es gewohnt sind, mit dem Kopf zu arbeiten. «Die Jugendlichen spüren am eigenen Leib, was es heisst, körperlich zu arbeiten, und sehen am Ende des Tages, was sie geleistet haben. Aber fertig ist die Arbeit nie. Alles ist work in progress. Überall gibt es Baustellen. Hier will ich eine Hecke verdichten, damit die Vögel nisten können, da baue ich einen weiteren Igelhaufen, dort sollte ich den Teich beschatten. Die Jugendlichen sehen, wie Biodiversität aussieht, und sich können jederzeit hierher zurückkommen, um mitzuverfolgen, wie sich der Garten entwickelt.
Die Empathie, mit der sich Kim Schlichenmaier um den Garten und ihre Schüler*innen kümmert, ist mit Händen greifbar. «Ich bin ja so dankbar für meine Situation und fühle mich reich beschenkt – von meinem Job, von der Schönheit dieses Orts und diesem Zusatzbereich, den ich mir erschaffen durfte. Es ist einfach ein grosses Privileg, dass ich mich hier so frei bewegen darf und etwas Gutes tun kann. Es freut mich auch mega, dass die Zusammenarbeit mit dem Gärtner so gut klappt. Er steht voll hinter mir, und wir helfen uns gegenseitig. Die Stimmung wird immer besser – einfach toll.»
Aber fertig ist die Arbeit nie. Alles ist work in progress.
Spielwiese für Experimente
Wie wohl sich Menschen, Tiere und Pflanzen hier fühlen, zeigt sich auf Schritt und Tritt. Auf den Wiesen und in den Beeten spriesst neues Leben, überall kreucht und fleucht es, brummt und summt, die Schüler*innen winken und grüssen, und auch die Tiere haben den Park für sich entdeckt. Auch sie tragen bei zu einer Artenvielfalt, die ihre ganz eigenen Blüten treibt und immer für überraschende Begegnungen sorgt.
Seit kurzem ist auch ein ungleiches Paar zu beobachten, das sich auf dem Dach eines Nebengebäudes zum Rendezvous trifft. Meist legt sich der schlaue Fuchs hin und schaut stoisch zu, wie ihn der kecke Rabe umflattert. Sie kehren immer wieder zurück und scheinen ihre Liebelei sichtlich zu geniessen. Der Mensch würde sagen: ein typischer Fall von Biodiversität. Aber was wissen wir schon über die geheimen Wünsche der Tiere?