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Alles ist gesagt

Die Schülerin Tamara Pohl hat für uns ein Gedicht geschrieben. Dabei hat sie sich zum Teil von Gottfried Benns Gedicht «Abschied» inspirieren lassen und dieses neu interpretiert.

11. Februar 2022

Dum dudum Dum dudum.
Das Geräusch eines Wasserhahns,
irgendwo im Hintergrund,
undefiniert und doch beständig.
Dum dudum Dum dudum.
Ein schwerer Tropfen, zwei kleinere.
Ein schwerer Tropfen, zwei kleinere.
Ein schwerer Tropfen, dudum.
Dum dudum Dum dudum.
Immer lauter und bedrohlicher, gefangen.

Ein verzweifelter, gellender Schrei, der mich rettet, mich befreit. Kühle, frische Luft, die durch meine Nase, bis tief in meine Lunge, mein Herz, meine Seele strömt. Mein Körper, der sich allmählich aus der Erstarrung löst, aus einer Erstarrung, denn ich war mir ihrer bis eben gar nicht bewusst gewesen. Und wieder, Geschrei, diesmal lauter, länger, leidender. Verzweifelt. Ein Kind, irgendwo im Hintergrund.

Etwas in meinem Innern regt sich, berührt von der Verzweiflung dieses doch so unschuldigen Geschöpfs. Der angenehme Geruch von heissem Kaffee steigt mir in die Nase und ich blicke irritiert zu meiner linken Hand, die unermüdlich in meiner Kaffeetasse rührt, dreht, sich windet. In meinen Ohren der Klang, der mit jeder Umdrehung durch das Schlagen des Löffels gegen die Tassenwand ertönt und das Kratzen, wenn der Löffel über den Tassenboden schabt.

Vorsichtig lehne ich mich vorneüber und halte meine Nasenspitze über den Tassenrand. Ich beobachte, wie der Kaffeedampf gemächlich und elegant aus der Tasse emporsteigt und schliesslich auf meiner Haut kondensiert und sie mit Wassertröpfchen benetzt. Hastig ziehe ich meinen Kopf wieder zurück, in der Angst, jemand könnte mich beobachtet haben.

Dabei fällt mein Blick auf den Stift in meiner rechten Hand, flaschengrün, mit goldener Gravur, die an einigen Stellen bereits abgeblättert ist, was von der Leidenschaft für Lyrik der Besitzerin zeugt. Doch nicht ohne Grund ist das Wort «Leiden» in Leidenschaft enthalten. Denn womöglich ist es keine hingebungsvolle Leidenschaft, sondern ein Zeugnis der Angst, die sie jedes Mal beschleicht, wenn sie den Stift in die Hand nimmt, das Zittern in ihren Fingern, der Schweiss, der es ihr unmöglich macht, überhaupt einen Strich aufs Papier zu setzen. Und dabei sind genau die Worte ihr Problem.

Dies ist wohl die Ironie des Schicksals, deren gellendes Lachen ich in meinem Schädel widerhallen höre. Die Tinte floss, die Worte taten es nicht. Sie sind eingemeisselt in mein Herz, eingemauert in meine Seele. Ich weiss nicht, wann der Zeitpunkt gekommen ist, in dem mein Traum, das Schreiben, die Lyrik, sich zu dem gewandelt hat, was sie heute für mich ist. Ein beständiger Albtraum, der mich jagt, meinen Tag zur Nacht macht.

Und dennoch ist mir bewusst, dass es das Schreiben, die Wörter nicht sein konnten. Es ist mein Kopf. Es ist mein Kopf, der die Wörter in mein Herz eingemeisselt und in meine Seele eingemauert hat. Und meine Gedanken drehen und winden sich, sie überschwemmen mich. Sie füllen mich an, wie Blut die frische Wunde.
Eine Wunde, die über die Jahre kaum merklich grösser und deren Pochen stärker geworden ist, bis zum heutigen Tage, an dem ich sie nicht mehr ignorieren kann, weil die Schmerzen zu laut sind. Ihr Geschrei ist immer da gewesen. Es war das Überleben, wenn die Träume fallen. Geschrei, Gekreische, all die Töne in meinem Kopf, dissonant, ich muss sie bändigen, die Hyänen, ich muss sie einfangen. Oder vielleicht muss ich sie freilassen. Ich weiss es nicht.

Ich versuche zu schreien, doch alle meine Reime sind keine, und die Hilflosigkeit übermannt mich. Ich fühle mich gedemütigt, möchte schreien, lauter als die Hyänen in meinem Kopf, ramme die Mine meines Stiftes in mein Blatt, wo sie ein kleines Löchlein hinterlässt. Lächerlich im Vergleich zu dem Loch in meinem Kopf. Und ich ramme den Stift erneut in das Blatt, aggressiver, tiefer, sodass er stecken bleibt, gefangen ist. Lächerlich. Lachen.

Nur dieses Mal bemerke ich, dass das Lachen aus meinem Munde stammt, schallendes Lachen, das an den Wänden des Cafés widerhallt. Aber dieses Lachen, jagt mir Angst ein. Dieses Lachen ist boshaft, dieses Lachen lacht mich aus. Dieses Lachen führt mir schmerzhaft meine grenzenlose Verlorenheit vor Augen.
Denn mein Wort, mein Himmelslicht, dereinst besessen, ist nun zerstört und vertan. Ich selbst habe es ausgelöscht, habe zuviel gelitten, zuviel gewusst.

Ein kalter Schauer überkommt mich, Gänsehaut klettert meinen Rücken empor, entlang meines Nackens und bedeckt meine Kopfhaut. Ermüdet lege ich meinen Kopf in meine Hände. Irgendwo auf dem Weg in dieses Café́, muss ich mich selbst verloren haben, irgendwo im Wahn der Wirklichkeiten.

Und so starre ich eine Weile aus dem Fenster ins Nichts. Doch je länger ich starre, desto mehr fallen mir all die Menschen, die vorbeilaufen auf, verwirrt, gestresst, gehetzt. Alle gefangen in ihrem eigenen Alltag, ihrer eigenen Welt, in unserer Welt.

Ein Mann. Er steht genau vor mir, auf der anderen Seite der Glasscheibe des Cafés.
Er steht auf einer Leiter, sie ist nicht besonders hoch und pechschwarz. Er streckt sich und schraubt etwas am Türrahmen fest. Er schraubt, dreht, windet. Er trägt seine Arbeitsuniform, eine Latzhose, blau, kein leuchtendes Blau, auch kein Nachtblau, Marineblau oder Cyan, halt so, wie man sich normales Blau eben vorstellt. Auf seinem weissen Hemd, welches er unter der Latzhose trägt, ist keine einzige Falte zu sehen. Schweissflecken, vom Schrauben und Drehen, aber keine Falten.

Seine Schuhe sind schwarz, pechschwarz, weshalb sie auf der Leiter nicht zu sehen sind. Aber er hatte Füsse, gewiss, er musste welche haben, denn sonst könnte er unmöglich auf der Leiter stehen, er wäre längst hinuntergefallen.
Gott weiss, welches Leid ihn bei einem Sturz ereilen würde. Die Distanz war minim, doch möglicherweise schlüge er mit seinem Kopf auf der Ecke des Tresens hinter ihm auf und zöge sich eine Hirnblutung zu. Unzählige Szenarien, aber bei allen läge er am Ende vermutlich im Krankenhaus. Und wer käme ihn dann besuchen? Hatte er eine Frau? Einen Mann? Kinder?

Ich sehe ihn vor meinem inneren Auge, im Anzug, neben ihm eine Frau in Weiss gekleidet, im Hintergrund das Meer. Glück, Erleichterung und ein Hauch von Melancholie umspielen die Szenerie. Dieselbe Melancholie, welche sich auch jetzt in seinen Augen widerspiegelt. Er trägt die gleiche Frisur wie heute, kurz, aber nicht zu kurz. Überall dieselbe Länge. Keine Auffälligkeiten.
Ich sehe seine Frau und ihn in der Küche, er auf einem Stuhl, sie steht hinter ihm und schneidet seine Haare. Etwas kürzer. Aber nicht zu kurz. Es ist Samstag. Montag muss er wieder arbeiten. Aber niemand soll einen Grund haben, ihm Fragen zu stellen. Er will nicht auffallen. Nicht, dass er etwas zu verbergen hätte. Aber er mag nun einmal keine unnötigen Fragen.
Deshalb sollen die Haare etwas kürzer werden, aber nicht zu kurz. Sonntag hätten sie Zeit, etwas nachzuwachsen und Montag fiele keinem etwas auf. So ist er zufrieden. Genauso, wie er jetzt zufrieden zu sein schien. Schraubend.
Er dreht die letzte Schraube ins Gewinde und legt seinen Schraubenzieher schliesslich beiseite.

Und langsam kehre ich zu mir zurück, und bemerke, wie das Karussell in meinem Kopf angehalten hat, die Hyänen verstummt sind, die Wunde nicht mehr so schmerzhaft pocht. Ich lächle leise und ziehe vorsichtig meinen flaschengrünen, teilweise abgeblätterten Stift aus dem Papier.

Ich weiss nicht
was mich treibt
antreibt
vertreibt

weg von hier, von mir
was geht – bin ich
was bleibt – bin ich

aber ich bin nicht mehr ich
denn ich bin weg
eine Hülle
sie lauscht und lernt
sie lacht und leuchtet

mit ihren letzten Kräften
bis sie verglüht
denn ich weiss mich nicht.