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«Ein Fach fürs Leben» – wie eine Lehrerin die Positive Psychologie an die KEN bringt

Im Freifach «Positive Psychologie» üben Schüler*innen, persönliche Stärken zu erkennen, soziale Beziehungen zu stärken und mit Krisen resilient umzugehen. In einer Welt, die oft von Leistungsdruck und Stress geprägt ist, gewinnen diese Fähigkeiten an Bedeutung.

8. September 2025

Wenn Schüler*innen freiwillig in der Mittagspause zum Unterricht kommen und wiederkommen, obwohl sie den Kurs bereits absolviert haben, dann ist etwas anders. Valeria Soriani, Gymnasiallehrerin für Deutsch und Kunstgeschichte sowie Fachvorstand in Deutsch, hat mit ihrem Freifach zur Positiven Psychologie ein Lernangebot geschaffen, das tief geht und Werkzeuge für das eigene Leben bereitstellt. Ihre Motivation: nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern junge Menschen in ihrer Resilienz und Selbstwahrnehmung zu stärken. Dabei geht es um Fragen wie «Was tut mir gut?» und «Wie kann ich mehr positive Momente und Gefühle im Alltag wahrnehmen?».

Der Weg zur Positiven Psychologie

Valerias Weg zur Positiven Psychologie war nicht geradlinig. Ursprünglich stammt ihr Interesse aus einer breiteren psychologischen Wissbegierde: Sie absolvierte unter anderem zwei CAS (Certificate of Advanced Studies) in Mediation und Klärungshilfe. Der endgültige Impuls kam dann von einem Freund, der ihr vom Zertifikatslehrgang in Positiver Psychologie (CAS) an der Universität Zürich erzählte, den schlussendlich dann aber nur sie im Jahr 2021 absolvierte.

Schon während der Ausbildung war für Valeria klar: Dieses Wissen soll in den schulischen Alltag einfliessen. Die Kantonsschule Enge unterstützte sie grosszügig und ermöglichte ihr einen Weiterbildungsurlaub, den sie intensiv nutzte. Dabei entstand ihre Diplomarbeit mit einem Unterrichtskonzept für ein Freifach, das Theorie und Praxis der Positiven Psychologie für Jugendliche erfahrbar und gut zugänglich macht.

Mehr als nur «positives Denken»

Ein zentrales Anliegen Valerias ist die Unterscheidung zwischen Positiver Psychologie und «positivem Denken». «Es geht nicht darum, alles schönzureden», betont sie. Vielmehr handle es sich um wissenschaftlich fundierte Werkzeuge zur Lebensbewältigung, die helfen, persönliche Stärken zu erkennen, soziale Beziehungen zu stärken und mit Krisen resilient umzugehen.

In ihrem Unterricht wird diese Haltung deutlich. Zwar gibt es theoretische Grundlagen, beispielsweise mit dem PERMA-Modell oder Konzepten wie «Character Strengths» – der Fokus liegt aber auf der praktischen Umsetzung. Methoden wie die Übung «Three Good Things» (drei gute Dinge täglich notieren) sind dabei so wirkungsvoll wie niedrigschwellig. Schon nach kurzer Zeit, sagt Valeria, berichten Schüler*innen von einem Perspektivenwechsel: Sie nehmen mehr Positives im Alltag wahr.

Unterricht, der ins Leben wirkt

Das Freifach dauert ein ganzes Schuljahr, wird im Doppelstundenrhythmus angeboten und umfasst Interventionen wie Achtsamkeit, das Erreichen von Zielen mit dem WOOP-Modell (Wish, Outcome, Obstacle, Plan), Reflexionsaufgaben, Gruppenübungen und viel Raum für den Austausch. Die Schüler*innen führen ein persönliches Heft, das sie frei gestalten dürfen. Es wird nicht benotet, es gibt keine Absenzenkontrollen, weil Vertrauen und Eigenverantwortung im Zentrum stehen.

Der Erfolg gibt ihr recht: Manche melden sich erneut an, manche schreiben lange Briefe und reflektieren, wie sehr ihnen der Kurs geholfen hat, nicht selten in schwierigen Lebenssituationen. Besonders die einfache, aber konsequente Übung mit den «Drei gute Dinge» wird oft als «lebensverändernd» beschrieben. Nicht zuletzt, weil sie ein anderes Bewusstsein für die kleinen Glücksmomente im Alltag schafft.

Zwischen Bildungsideal und Realität

Doch Valeria ist keine romantische Idealistin. Sie sieht die Grenzen des Bildungssystems sehr klar. «Unser System definiert Erfolg fast ausschliesslich über Leistung», sagt sie. Es fehle an Platz für Kreativität, Individualität und emotionale Entwicklung. Zwar bemüht sich ihre Schule mit Projekttagen und zusätzlichen Angeboten, die Themen wie psychische Gesundheit, Fehlerkultur oder Achtsamkeit aufgreifen, doch strukturell fehle es an Verbindlichkeit und Sichtbarkeit. Besonders in einem Schulalltag, der ohnehin von Leistungsdruck, Zeitnot und Überforderung geprägt ist, bleiben solche Angebote oft unter dem Radar. Umso wichtiger wäre es aus ihrer Sicht, die Positive Psychologie in der Lehrer*innenbildung zu verankern – nicht als Wohlfühlpädagogik, sondern als essenzielles Werkzeug für das 21. Jahrhundert.

Schule als Schutzraum

In Zeiten wachsender psychischer Belastungen unter Jugendlichen – Wartezeiten bei Therapeutinnen, Druck durch Noten, soziale Vergleiche – sieht Valeria ihre Aufgabe nicht nur in der Wissensvermittlung. Als Deutschlehrerin bringt sie psychologische Themen auch in ihren regulären Unterricht ein. «Ich begleite einige Schülerinnen sehr eng, sei es als Kassenlehrerin oder einfach, weil sie das Gespräch suchen», sagt sie. Für sie ist klar: Schule muss mehr leisten als das klassische Curriculum – sie muss Schutzraum und Entwicklungslabor zugleich sein.

Die positiven Rückmeldungen ihrer Schüler*innen bestätigen sie: Sie fühlen sich ernst genommen, können reflektieren, entwickeln Selbstvertrauen. «Viele wissen genau, warum es ihnen schlecht geht – aber kaum jemand kann sagen, warum es ihnen gut geht», sagt Valeria. Das zu ändern, ist ein zentrales Ziel ihres Unterrichts. Denn zu wissen, was einem gut tut, ist gerade in herausfordernden Zeiten essentiell für ein erfülltes Leben.

Fazit: Ein Unterricht, der bleibt und stärkt

Das Freifach Positive Psychologie ist ein Angebot zur Selbstwirksamkeit und zeigt, dass Schule mehr sein kann als Vorbereitung auf Prüfungen. Es schafft Räume für Menschlichkeit, Reflexion und Wachstum, gerade in einer Zeit, in der viele Jugendliche mit Unsicherheiten kämpfen. Und vielleicht ist es genau das, was Schule heute am dringendsten braucht.

PERMA-Modell: Das PERMA-Modell ist ein Rahmenmodell der positiven Psychologie, das von Martin Seligman entwickelt wurde, um Wohlbefinden zu verstehen und zu fördern. Es basiert auf fünf Elementen, die als Säulen für ein erfülltes Leben betrachtet werden: Positive Emotionen, Engagement, positive Beziehungen, Sinnhaftigkeit (Meaning) und Zielerreichung (Accomplishment).

Charakterstärkentest: Hier gibt es online verschiedene Tests. Beispielsweise das VIA Inventar der Stärken der Uni Bern.  workwell.psy.unibe.ch/VIA-IS