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«Wir denken die Schule neu»

Die Zürcher Mittelschulen platzen aus allen Nähten. Die demografische Entwicklung kennt nur eine Richtung, die Schüler*innenzahlen zeigen steil nach oben. Ohne zusätzlichen Schulraum ist diese Situation nicht in den Griff zu bekommen. Für die Frage, wie dieser Schulraum aussehen soll und klug zu nutzen ist, braucht es helle Köpfe.

27. Mai 2022

Jürg Berthold, bald 60, Mittelschullehrer, Prorektor, Titularprofessor für Philosophie an der UZH, nimmt die letzte Kurve seiner beruflichen Laufbahn und biegt so langsam auf die Zielgerade ein. Eine erfolgreiche Karriere, vollbepackt mit Arbeit und reich an Herausforderungen, neigt sich dem Ende zu. Ein alter weisser Mann, würde man meinen, tritt ab, und die Welt der Bildung sagt leise Servus.

Würde man, wenn man’s nicht besser wüsste. Denn Jürg Berthold ist das pure Gegenteil von alt, bequem und vergesslich. Ein bisschen weiss vielleicht, aber so inspiriert, witzig und klug, dass es eine Freude ist, mit ihm über sein grosses Projekt zu sprechen, das ihn seit langem in Beschlag nimmt. Schulentwicklung lautet das Thema, und er steckt mittendrin.

Herr Berthold, was bedeutet eigentlich Schulentwicklung? Die Schule ist ja schon gebaut.

Guter Scherz. Fast so gut wie das legendäre Zitat der damaligen Stadträtin Ursula Koch, die in den achtziger Jahren über Zürich gesagt hat: «Die Stadt ist gebaut.» Nein, im Ernst: Die Schule ist natürlich nie gebaut. Sie verändert sich mit jedem Tag, an dem unterrichtet wird, und mit all den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, auf die auch wir eine Antwort bereithalten müssen.

Was heisst das konkret?

Nehmen wir als Beispiel die Digitalisierung. Sie hat unser Leben in kürzester Zeit komplett verändert. Wir müssen uns die Frage stellen: Was macht das mit der Schule? Wie können wir diese Chance nutzen? Welche Massnahmen müssen wir treffen? Nur geht das leider nicht von heute auf morgen. Mit der IT-Infrastruktur und der Software, die uns zur Verfügung steht, ist es schlicht nicht möglich, die Abläufe an der Schule so zu digitalisieren, wie wir uns das wünschten.

Sie sind seit 2018 Prorektor an der Kantonsschule Uetikon. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?

Ich war vorher in Wetzikon an der Kantonsschule Zürcher Oberland und habe Deutsch und Philosophie unterrichtet. Zum damaligen Rektor Martin Zimmermann hatte ich immer einen sehr guten Draht. Als er sich entschied, nach Uetikon zu wechseln, hat er mich eingeladen, mich auch zu bewerben. Hier bilden wir zusammen die Schulleitung, und wir können gemeinsam Ideen entwickeln, die unsere Schule weiterbringen und besser machen.

War Uetikon für Sie eine Art grüne Wiese?

Als wir hier begannen, gab’s das Schulhaus ja noch gar nicht, es war im wahrsten Sinn des Wortes eine Wiese. Unsere Kantonsschule ist seit etwas mehr als vierzig Jahren auch die erste, die im Kanton Zürich neu gegründet wurde. Wir mussten also praktisch bei Null beginnen, was nicht heisst, dass nicht vieles vorgegeben war. Projektleiter war Urs Bamert, der heutige Rektor der Kanti Zimmerberg. Er hat die Infrastruktur der Schule aufgebaut, er hat unheimlich viel gemacht. Und wir halfen aktiv mit und konnten unsere Ideen voll einbringen. Hier in Uetikon haben wir wirklich eine echte Chance, die Schule neu zu denken. Das Wichtigste steht ja erst bevor.

Wir wollen die DNA der Schule ändern.

Ist das jetzige Provisorium also nur ein Zwischenhalt?

Jein. Unser Provisorium ist ein Glücksfall für alle, und bis mindestens 2029 sind wir noch hier. Es ist ein sehr schöner Ort geworden, der gar nicht provisorisch wirkt und alles bietet. Dann ziehen wir um in die ehemalige Chemiefabrik unmittelbar am See. Wir freuen uns unendlich auf diesen Moment. Aber hier, im Provisorium, können wir schon jetzt Dinge realisieren, die unseren Vorstellungen von Schule entspricht. Die Erfahrungen, die wir damit machen, sind für die Entwicklung der neuen Schule extrem wertvoll.

Aber was ist denn eigentlich so neu und so anders?

Beginnen wir beim Schulhaus. Vieles ist vorgegeben und entspricht der DNA einer klassischen Schule. Man hat eine bestimmte Anzahl Schüler*innen und definiert die Klassengrösse, und schon weiss man ziemlich genau, wie viele Klassen- und Spezialzimmer es braucht. Deshalb sehen Schulhäuser auf der ganzen Welt mehr oder weniger gleich aus. Eine Variation kommt allenfalls mit der Frage ins Spiel, ob die Klasse wandern soll oder die Lehrperson.

Wofür haben Sie sich entschieden?

Wir experimentieren mit allen möglichen Formen, weil uns bewusst wurde, dass dies für die Schulentwicklung entscheidend ist. Wir gehen von der Frage aus, wie wir den Schulraum am besten nutzen können. Es macht keinen Sinn, wenn eine kleine Gruppe ein ganzes Zimmer belegt, und eine längere Arbeit kann durchaus woanders stattfinden – in einem Coworking-Space, einem «Grossraumbüro» oder draussen im Freien. Dies war möglich, weil wir mit wenig Klassen gestartet sind und sehr viel Raum zur Verfügung hatten, Räume unterschiedlich zu gestalten. Es waren aber immer noch Klassenzimmer.

Das hört sich an wie eine Deluxe-Variante.

Zweifellos, das war es auch. Das ist heute nicht mehr möglich, denn mittlerweile hat sich das Schulidyll mit vier Klassen zu einem mittleren Grossbetrieb mit 24 Klassen nach den Sommerferien entwickelt. In der Zwischenzeit hat sich aber einiges getan. Die Pandemie hat die Digitalisierung vorangetrieben und den Unterricht verändert. Digitalisierung hat die Eigenschaft, dass sie die Raum-Zeit-Struktur und somit letztlich die DNA einer Schule weitgehend auflöst oder zumindest das Potential dazu hat. Es ist nicht mehr nötig, dass man zur gleichen Zeit am gleichen Ort ist, und das klassische Schulzimmer braucht es auch nicht mehr, weil man heute ganz anders arbeitet. Das bedeutet aber auch: Die gemeinsame Präsenzzeit wird wertvoller, und man muss sich gut überlegen, wie man sie sinnvoll nutzt.

Das klassische Schulzimmer verliert an Bedeutung, weil es nicht mehr immer nötig ist, zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu sein.

Fliessen solche Erfahrungen in die Entwicklung der Schule am See ein?

Ja, und zwar ganz offiziell. Das Bildungsamt (MBA) ist schon früh auf uns zugekommen und hat uns von Anfang an in den Entwicklungsprozess einbezogen. So konnten wir – gemeinsam mit unseren Lehrerinnen und Lehrern – die Räume definieren, die es aus unserer Sicht in der neuen Schule braucht, und unsere Ideen in Form einer Bestellung im Rahmen des Architekturwettbewerbs materialisieren. Die Kernidee bestand darin, dass die Lehrperson nicht mehr für jede Lektion einen Raum zur Verfügung hat. Die frei werdenden Räume können so völlig neu genutzt werden können – als Maker Hall, Collaboration-Lab, schalldichte «Musik-Boxen», Lounges für Klassengespräche, Räume mit Hockern für schnell wechselnde Interaktionsformen und vieles mehr.

Klingt spannend.

Ganz wichtig ist das Mobiliar. Wir wollen wegkommen vom typischen Schul-Groove und verhindern, dass die Räume immer gleich möbliert sind und immer nach Schule aussehen. Hier passt vielleicht ein Beizenmobiliar, da unterschiedliche Stühle, dort eine Sofaecke. Es gibt ganz viele Details, die zu beachten sind, damit der Grossraum letztlich funktioniert. Es muss Unterteilungen geben, stille Bereiche für den Rückzug und das konzentrierte Arbeiten, aber auch Bereiche, wo man zusammenarbeiten kann. Dabei sind wir im Team immer davon ausgegangen, was Räume ermöglichen und was nicht.

Gibt es Modelle, an denen Sie sich orientieren?

Das Ørestad Gymnasium in Kopenhagen hat uns zweifellos inspiriert. Die Architektur ist wirklich innovativ, es gibt zum Beispiel kein einziges Schulzimmer mehr, die Schule arbeitet ohne Papier und setzt voll auf den Einsatz von digitalen Medien. Natürlich schauen wir uns aber auch andere Schulen an. Da gibt es viele bemerkenswerte Ideen – vom Input-Raum über den Plenarsaal bis zum Kabäuschen als Studierzimmer.

Wie verläuft die bisherige Zusammenarbeit mit dem Amt?

Die Unterstützung ist wirklich gross. Wenn wir eine Idee einbringen und in die Bestellung aufnehmen, wird unser Anliegen gemeinsam diskutiert und in der Regel bewilligt. Dies ist nicht selbstverständlich, da wir ja drauf und dran sind, vieles zu verändern. Und es ist auch nicht so, dass wir Platz einsparen, indem wir die klassische Lektion partiell auflösen. Uns geht es vielmehr darum, die Schule zeitgemässer, lebendiger und diverser zu gestalten. Oder anders gesagt: Wir haben gleich viel Platz zur Verfügung, aber wir nehmen die Chance wahr, ihn neu zu nutzen. Deshalb hilft dieser Zugang auch nicht, das Schulraumproblem im Kanton zu lösen.

Wir haben gleich viel Platz, aber wir nutzen ihn neu.

Und hier sind Sie bereits fleissig am Üben?

So ist es. In Kürze erhalten wir aufgrund des Schulraummangels noch einen Erweiterungsbau am provisorischen Standort. Dieser ist als Prototyp angedacht, der uns zeigen soll, wie es in der neuen Schule aussehen wird. Unten gibt es kleinere und grössere Räume für verschiedene Zwecke, und der obere Stock ist ein durchgehender Raum – eine Art Maker Hall, die uns alle Freiheiten zum Experimentieren gibt. Eine weitere Versuchsanordnung ist die Freiluft Maker Hall der Fachschaft Biologie, wo die Schüler*innen eigene Projekte realisieren oder anhand einer Simulation in zwei Gewächshäusern mitverfolgen können, wie sich das Klima bei unterschiedlichen Szenarien in den kommenden Jahrzehnten verändern wird.

Wie gehen die Lehrpersonen mit diesem Paradigmenwechsel um?

Wir sind eine neue Schule und haben einen entsprechend jungen und sehr motivierten Lehrkörper. Viele machen ihre ersten Erfahrungen mit Unterrichten und müssen viel Zeit in die Vorbereitung der Lektionen investieren. Für Lehrpersonen, die noch nicht über die nötige Erfahrung verfügen, sind offene Formen entsprechend anspruchsvoll zu handhaben. Es ist aber eindrücklich, was alles ausprobiert wurde; Einblicke findet man auf der Webseite der Schule. Unser Ziel ist es, unsere Lehrer*innen Schritt für Schritt an die neuen Schulformen heranzuführen, damit sie gut vorbereitet sind, wenn wir auf das Chemieareal am See umziehen. Die Pandemie hat uns da aber auch aufgehalten; wir mussten uns die letzten zwei Jahre mit ganz anderen Fragen beschäftigen.

Bleibt bei so vielen Ideen überhaupt noch Zeit, den Lehrplan einzuhalten?

Der Lehrplan ist wichtig, aber er stellt einen weiten Rahmen dar, in dem man sich positionieren muss. Die heutige Welt stellt so viele Anforderungen an unsere Schüler*innen, dass es ein Overkill wäre, den Lehrplan buchstabengetreu umzusetzen. Was wir vermitteln müssen, ist ein richtiges Mindset. Jugendliche, die zu uns kommen, sollen neugierig sein, selbstständig arbeiten und vernetzt denken können. Um zu bestehen, müssen sie mit Veränderungen umgehen lernen und sich mit dem Unbekannten anfreunden – Eigenschaften, die für die Studierfähigkeit genauso entscheidend sind. Ideal wäre deshalb ein Lehrplan, der auf einer A4-Seite Platz findet. Wichtig sind aber Absprachen in und zwischen den Fachschaften. Mehr braucht es aus meiner Sicht nicht.

Ein Schlusswort?

Die Kantonsschule Uetikon ist ein Glücksfall für mich. Ich habe mich hier neu erfinden können und bin dankbar für die Erfahrungen, die ich auf dem Weg zur neuen Schule gemeinsam mit Martin Zimmermann machen darf. Wir sind uns bewusst, dass wir Teil eines Projektes sind, das es in dieser Form an anderen Schulen gar nicht gibt. Oder vielleicht noch nicht gibt. Denn die Schule von morgen ist nicht mehr die Schule von heute. Deshalb stehen wir alle in der Pflicht.

Herzlichen Dank für dieses Gespräch.