Mit der Klasse ins Theater – darfs auch digital sein?
Mit einer Schulklasse ins Theater zu gehen, ist wichtig, findet Evelyn Klöti, Deutschlehrerin an der Kantonsschule Hohe Promenade. Denn Aufführungen hinterlassen bei Jugendlichen starke Eindrücke und sorgen für angeregte Diskussionen im Klassenzimmer. Ob das wohl auch bei digitalen Aufführungen der Fall ist?
28. Mai 2020
Worte finden für das, was man sieht, erlebt und empfindet während einer Theater- oder Tanzaufführung, sich mitzuteilen und die eigene Wahrnehmung mit Gleichaltrigen zu teilen und zu vergleichen, ist ein zentrales Anliegen des Deutschunterrichts. Beim Sprechen und Schreiben über Inszenierungen erweitert sich nicht nur der Wortschatz, sondern auch der Erfahrungsschatz an ästhetischen Erlebnissen, seien diese live oder medial vermittelt.
Ja, die Erde ist eine dünne Kruste; ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. – Man muß immer mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen. Aber gehn' Sie ins Theater, ich rat' es Ihnen!
Georg Büchner: Dantons Tod, II,
Die folgenden Überlegungen stehen exemplarisch für viele, viele Theaterbesuche in den letzten Jahren und sind jetzt, da die Theater auf unbestimmte Zeit geschlossen sind, in wehmütiger Stimmung formuliert.
Theaterprogramm als Inspiration für den Unterricht
Mit Klassen der Unterstufe besuche ich geeignete Theateraufführungen eigentlich nur, wenn es sich gerade ergibt. Auf der Mittel- und Oberstufe hingegen ist mindestens ein Theaterbesuch pro Semester ein Muss. Oft kommt es vor, dass ich das Semesterprogramm thematisch danach ausrichte, was es in den Museen und Theatern Spannendes zu sehen gibt. So hätte ich mit meiner kulturaffinen 5. Klasse der HoPro dieses Semester Goethes «Faust» nicht nur gelesen und besprochen, sondern ihn auch im Schauspielhaus, im Opernhaus (als Oper und als Ballett) und im Rigiblick auch gesehen. Die Plätze waren über «Schule und Kultur» – dieser unverzichtbaren Institution! – schon bestellt. Nun ist es leider dieses Schuljahr «live» bei Dürrenmatts «Alter Dame» im Rigiblick, Goethes «Werther!» im Schauspielhaus und dem «Forsythe»-Abend im Opernhaus geblieben, aber «digital» habe ich einiges ausprobiert.
Vom Text zu einer Inszenierung und wieder zurück zum Text
Wehmütig blicke ich zurück auf das Gastspiel «Der Besuch der alten Dame» (Theater Kanton Zürich) am 27. November 2019 im Theater Rigiblick. Obschon die Schüler*innen sich ob der grotesken Elemente bestens amüsiert hatten, kritisierten sie tags darauf die nicht textgetreue Umsetzung bei der Aufführungsanalyse.

Stein des Anstosses: Die Schauspieler*innen trugen Sneakers und machten den Dab. Das gehe gar nicht! Erstens: Der Dab sei nur für Jugendliche und zweitens: sowieso schon längst passé. Durch diese Anbiederung an ein junges Publikum, das man ins Theater locken wolle, habe sich der Regisseur Elias Perrig die Glaubwürdigkeit total verspielt. Erfahrungsgemäss sind Gymnasiast*innen eher konservativ, wenn ein Stücktext nicht 1:1 umgesetzt wird. Aber schnell merken Jugendliche, wenn man sich ihnen – im Theater wie auch in der Schule – anbiedern will, schnell geht ihnen eine besonders freizügige oder gewalttätige Darstellung zu nah oder sie ertragen es schlicht nicht, wenn Erwachsene sich wie Jugendliche aufführen und auf der Bühne sinnlose Sachen machen, die sie selbst auch gerne machen würden, sich aber nicht getrauen. Alles Zündstoff für spannende Diskussionen und Texte.
Kein Text – Tanz! Der «Forsythe»-Abend im Opernhaus – das Highlight der Saison
Sehr gerne schleppe ich Schulklassen auch in Tanzaufführungen, gerade weil die meisten mit der Sprache des zeitgenössischen Tanzes oder des Balletts nicht vertraut sind und es meist keinen vorher gelesenen Text gibt, an den man sich halten kann. Was William Forsythe betrifft, bekamen die Schüler*innen aber eine lange Einführung. Sie seien in der glücklichen Lage, einen der besten und vielseitigsten Künstler des letzten Jahrhunderts zu erleben; und gleichzeitig den Hinweis, entspannt zu sein, nicht immer alles verstehen zu wollen. Hier gehe es schlicht darum zu schauen, wahrzunehmen – mit «gleichschwebender Aufmerksamkeit» - und die Freiheit des Zuschauers im Theater zu geniessen, dorthin zu schauen, wo es einen hinziehe. Mit «Giselle» und «Nijinsky» – Wahnsinn in Tanz und Literatur – war sich die Klasse bereits einiges gewohnt und reagierte restlos begeistert auf die Triple Bill von William «Bill» Forsythe. Dass jemand im Parkett «Zugabe» ruft, kommt im Opernhaus nicht oft vor ...
Nebenbei gesagt, ich bestelle bei «Schule und Kultur» immer ein, zwei Plätze mehr für Lehrpersonen, die die Klasse auch unterrichten, was zu schönen Begegnungen und Gesprächen im Theater, in der Bar danach und auch im Lehrerzimmer führt.
Digital – Nr. 1: Nussknacker und Mausekönig
Von langer Hand geplant waren E.T.A. Hoffmanns Erzählungen «Nussknacker und Mausekönig» und «Der Sandmann», um nämlich auch meine 4. Klasse mit dem Tanz-Virus zu infizieren: Die beiden Produktionen von Ballettdirektor Christian Spuck versteht nämlich nur, wer den Text gelesen hat, denn Spuck ist bekannt dafür, bereits bekannten und beliebten Handlungsballetten den «Zucker» wegzunehmen und Abgründiges sichtbar zu machen, indem er die gelben Reclam-Büchlein eben selber auch ganz genau liest und in Bewegung versetzt, in Tanz übersetzt.

Die Karten für den 24. März lagen schon bei mir zu Hause – schöne Plätze für wenig Geld – einmal mehr ein Hoch auf Schule und Kultur – , als das Opernhaus schliessen musste und dafür gratis Streaming-Angebote aufschaltete. In den Frühlingsferien schickte ich den Schüler*innen das Billett per Post und man traf sich am 24. April auf Teams – schick gekleidet –, um zusammen eine Aufzeichnung des Spuckschen «Nussknackers» zu schauen. Der Event wollte aber nicht so recht klappen. Die Jugendlichen sassen ganz «tuuch» vor dem Bildschirm, wohl unglücklich darüber, nach den Ferien immer noch nicht in die Schule gehen zu dürfen. Und Screen-, Streams- und Teams-müde, wie ich ja auch. Jedenfalls mochte sich nach dem Schlussapplaus niemand mehr über das Ballett äussern, was bei einigen digitale und analoge Tristesse auslöste.
Die Rückmeldungen der Schüler*innen sind aber auch hier konträr – das ist ja das Schöne, Lebendige, Unvorhersehbare, wenn man mit Schulklassen ins Theater oder in den digitalen Ausgang geht.
Digital – Nr. 2: Wozzeck
Mitte Mai wagte ich einen zweiten Versuch mit der 5b: Statt Gounods Faust-Oper live stand Alban Bergs Oper «Wozzeck» (Regie: Andreas Homoki) auf dem Programm. Wieder traf man sich vorher in einer Videokonferenz auf Teams, um vor der Aufführung miteinander zu plaudern und das Outfit zu bewundern, wie man das auch im Foyer des Opernhauses tut, aber dann habe ich etwas gemacht, was man «live» aus Respekt vor den Künstler*innen und dem Publikum nie wagen würde, nämlich einen Besprechungschat eingerichtet, damit wir uns während der Vorstellung, die alle auf einem zweiten Gerät verfolgten, direkt über die Oper austauschen konnten. Und das war sehr interessant. Denn Erinnerungen an die Woyzeck-Lektüre im Klassenzimmer tauchten auf, Zitate wurden hervorgehoben und es wurde darüber diskutiert, ob die Groteske nun unheimlich oder komisch sei. Wie bei einem analogen, echten, richtigen Besuch herrschte eine ganz eigene Konzentration auf ein künstlerisches Ereignis, zwar nicht «live», sondern digital, aber trotzdem ein gemeinsamer Besuch, einfach einmal anders. Und hoffentlich nur eine Übergangslösung.

P. S. Dieser Text legt den Fokus auf die Darstellenden Künste, ich gehe natürlich auch mit Klassen in Ausstellungen und Museen, was genau so zum Worte-Finden und Austauschen anregt. Mit allen Klassen wäre ich in die Olafur Eliasson-Ausstellung gegangen, just in der Woche, als es hiess: Lockdown.